Ich hatte noch nie von diesem kleinen Fischerdorf namens Dingle an der rauen Westküste Irlands gehört. Bis meine Freundin Jessica der Liebe wegen von Köln dorthin zog. Nun stand mein erster Besuch bei ihr an, über Silvester. Eine berührende Geschichte aus dem schönsten Dorf Irlands, das seine Bekanntheit einem flippigen Meeresbewohner verdankt.
Es ist schon dunkel, als ich das Lenkrad des Mietwagens herumreiße, um noch in letzter Sekunde rechts abzubiegen. Das braun-blaue Schild mit den wellenähnlichen Zacken weist ebendort in den kleinen Feldweg. Er kennzeichnet den »Wild Atlantic Way«, der in 2.600 Kilometern die gesamte westliche Küste Irlands umschlängelt – eine der längsten und schönsten Küstenstraßen der Welt, die kurz hinter Tralee auf die Dingle-Halbinsel abbiegt. Einen Umweg, den sich viele Urlauber sparen.
Leider bekomme ich von dem spektakulären Connor Pass, der sich über die schroffen Berge der Peninsula schiebt, wenig mit. Dort, wo links von mir nur dunkle Nacht vorbeirauscht, erstrecken sich tief unter mir Gletscherseen in einer mystischen Moorlandschaft, die einem bei Tageslicht den Atem verschlägt. Jetzt bin ich einfach nur froh, wenn mir auf einer der höchsten Passstraßen Irlands keine Autoscheinwerferpaare entgegenkommen, denn dann ist man auf die schmalen Haltebuchten angewiesen.
Doch bald schon strahlt das beschauliche Dingle in weiter Ferne in der Bucht, und die Lichter werden minütlich größer. Meine Bleibe, das schmucke Benners Hotel, besitzt keine Hausnummer. Braucht es in Dingle auch nicht, schließlich kennt der Postbote jeden Einwohner persönlich. Als ich nun auf der pittoresken »Main Street«, wo sich mein Hotel befindet, einen Parkplatz suche, kreuzen schwatzende Passanten sorglos die Straße.
Dingle: Irlands berühmtestes Dorf
Aus unzähligen Pubs schallt irische »Trad Music«, mit großer Wahrscheinlichkeit live. Jessica hatte mich vorgewarnt. Morgen ist Silvester, und das Dorf bereits proppenvoll. Denn traditionell kommen junge Iren zum Neujahrswechsel in Dingle zusammen. Das kleine Dorf kennt in Irland jeder.
Klar, das 2.000-Seelen-Städtchen im schönen County Kerry könnte eindrucksvoller nicht liegen. Eingebettet in einer Bucht auf einer der schönsten Landzungen Irlands, schaukeln die alten Fischerboote im kleinen Hafen. In der direkten Umgebung locken Berge mit traumhaften Wanderwegen, Steilküsten, kilometerlange Strände – eine Landschaft, die keiner weiteren Romantisierung Rosamunde Pilchers benötigt.
Vielleicht doch, denn Dingle verdankt seine Berühmtheit einem Delfin. Ja, richtig gelesen. Fungie, wie man ihn taufte, wurde vermutlich von seiner Gruppe verstoßen oder zurückgelassen, jedenfalls bemerkten 1983 erstmals Fischer den einsamen Delfi n in der Bucht vor der kleinen Hafenstadt. Sie versuchten, ihn mit Futter anzulocken – ohne Erfolg. Doch: Der riesige Delfin blieb. Alleine. Seit über 35 Jahren lebt er nun in der Bucht. Und genießt es, die ein- und ausfahrenden Fischerboote zu begleiten. Schnell machte der Ehrenbürger von Dingle, dem am Hafen eine eigene Statue gewidmet ist, die Runde im Land. Einmal im Leben Fungie sehen – ein Wunsch, den sich viele Iren erfüllen. So nehmen die Fischerboote meist vormittags die Touristen mit raus in die Bucht.
Dingle’s Ehrenbürger
Es dauert nie lange, bis auch Fungie aufschlägt und das Spektakel offensichtlich genießt. Wer ihn nicht sieht, bekommt sein Geld zurück – passiert nur quasi nie. Doch auch falls Fungie irgendwann nicht mehr ist, hat Dingle viel zu bieten. Des Tags drauf erkunden wir mit dem Auto die Halbinsel, Mikey möchte uns die liebsten Orte seiner Heimat zeigen. Der irische Freund meiner Freundin kommt gebürtig aus Dingle und kennt jeden Grashalm auf der Landzunge.
Er lebt meist nur saisonal hier, denn besonders im Sommer gibt es viel zu tun. Dann arbeitet Mikey gemeinsam mit seinen drei Brüdern als Fischer auf dem Boot seines Vaters. Hummer, Shrimps und Pollack-Fische geben guten Ertrag. Auf Kajaktouren zeigt er außerdem irischen Studenten die vorgelagerten Höhlen an der Küste – und morgens bringt er natürlich Delfinliebhaber zu Fungie. Ich durfte ihn bei der heutigen Tour mit dem Fischerboot begleiten. Nun verstehe ich Irlands Hype um diesen verspielten Delfin, der auch für uns eine Wahnsinnsshow hinlegte.
Mit einer Geschwindigkeit, an der man die Einheimischen leicht von den Touristen unterscheiden kann, heizt Mikey die schmale Straße entlang gen westlichsten Punkt Irlands. Kurz vorm Ende des Dorfs passieren wir die Gin-Destillerie von Dingle. Ihr London Dry Gin wurde 2019 zum besten Gin der Welt gewählt. Man ist hier mächtig stolz, und auch Mikey lässt nicht unerwähnt, dass sein Bruder hier mal gearbeitet hat.
Willkommen im Irland-Klischee
Kaum haben wir die wenigen Häuser von Dingle verlassen, umgibt uns feinstes Irland-Klischee: Schafe grasen auf grünen Hügeln, die in gigantischen Felsen im Meer enden. Der Wind plustert durch ihr Fell, die Wellen peitschen gegen die Felsen. Die Küstenstraße führt vorbei an verlassenen Stränden, die Wolken hängen tief. Doch nach einer Kurve erreicht die wilde Wucht plötzlich seinen Höhepunkt, der nicht enden mag. Kein Wunder, dass die Halbinsel unzählige irische Schriftsteller und Dichter hervorgebracht hat: Landschaftliche Inspiration zur Dramatik gibt es ausreichend.
Slea Head Drive wird dieser 30 Kilometer lange Straßenabschnitt genannt, der kurz hinter Dingle beginnt. Meist passen keine zwei Autos nebeneinander, bevor rechts der Fels und links das Meer kommt. An jeder Möglichkeit muss Mikey anhalten, damit ich Fotos machen kann. Der Blick über den rauen Ozean ist fast zu schön, um wahr zu sein. Selbst Mikey, der diesen Weg wöchentlich fährt, fotografiert fleißig mit seinem Handy. Bei Fahan passieren wir alte Beehive Forts, Bienenkorbhäuser – eine so große Anzahl historischer Fortbauten ist auf der Halbinsel einmalig in Irland.
Mehrmals steigen wir aus und machen einen kleinen Spaziergang. Beim Dunmore Head, dem westlichsten Punkt des Landes, spazieren wir über saftig grünes Gras (dem Golfstrom sei Dank wird es in Irland auch im Winter nicht besonders kalt) den letzten Klippen des Landes entgegen. Dieser und viele andere malerische Orte auf der Halbinsel dürften Star-Wars-Fans bekannt vorkommen. Während bereits »Das Erwachen der Macht« auf der vorgelagerten Insel Skellig Michael gedreht wurde, verlagerte man für »Der letzte Jedi« die Dreharbeiten aufs Festland der Dingle-Halbinsel. Schilder zeigen heute an, wo genau gefilmt wurde, ein Walk of Fame in Dingle listet die Schauspieler, die während der Drehzeit Dingle ihr Zuhause nannten und in den Pubs des Dorfes ein- und ausgingen. Den Schulkindern von Ballyferriter dürfte der Überraschungsbesuch des waschechten Chewbacca noch lange in Erinnerung bleiben.
Der Blick über den wilden Ozean
Am Horizont schlummern die Blasket-Inseln – sprichwörtlich gemeint. Die Insel Inishtooskert wird im Volksmund auch »Sleeping Giant« genannt, gleicht sie doch einem Mann mit gefalteten Händen, der auf der Wasseroberfl äche schläft. Hauptsächlich Robben und Seevögel beheimaten diese einsamen Eilande – und ein Hostel, das absolute Abgeschiedenheit verspricht. Sonst sind die sieben Inseln unbewohnt.
Von unserem grandiosen Sunset-Spot am Dunmore Head sind es nur noch wenige Hundert Meter bis zum berühmten Fährhafen von Dún Chaoin. Hier legt die Fähre zu den Inseln ab. Nicht nur die steile Straße hinab ist ein wahrer Hingucker, auch die Schafe, die jedes Jahr auf die Inseln gebracht und wieder abgeholt werden und sich dicht auf diesem Weg drängen, sind zum Werbebild Ryanairs für ihre Flüge ins nahe Shannon geworden.
Die Nacht der Nächte in Dingle
Man möchte sich gar nicht lösen von diesem wunderschönen, wilden Ort. Die Wolken veranstalten ein wahres Lichterspektakel zum Sonnenuntergang. Doch wir müssen zurück, denn heute ist schließlich Silvester, und das große alljährliche Spektakel in Dingle, das für viele Iren schon zur Tradition geworden ist, möchte ich nicht verpassen. Irlands Place to be an diesem Abend ist ebendieses kleine Fischerdorf.
Über 30 bunte Pubs säumen dicht nebeneinander die Main und Strand Street, das ist selbst für Irland eine stolze Zahl. Schon am Nachmittag füllen Konzerte berühmter irischer Musiker die Kneipen. Die Silvesterfeierei wird später um 22 Uhr mit einem Feuerwerk eingeläutet – von der Stadt organisiert am Hafen, malerische Spiegelung in der Bucht inklusive. Eigenes Knallen ist verboten. Danach geht es zurück in die Pubs – und zwar von der einen Dorfseite Pint für Pint und von Bar zu Bar bis auf die andere Dorfseite. Um zwölf Uhr gibt es dann auf dem großen Platz einen gewaltigen Countdown, bei Null und Neujahr marschieren Musikparaden durch die Stadt, in den Pubs und auf Open-Air-Partys wird mit einem Glas Guinness oder Dingle Gin Tonic fleißig weitergefeiert, bis der Morgen kommt.
Als die ersten Lichter von Dingle vor uns im Halbdunkeln auftauchen – heute von der anderen Seite aus kommend – merke ich, wie ich dieses wunderschöne Fleckchen Erde bereits nach einem Tag fest in mein Herz geschlossen habe. Wie jammerschade, dass viele Menschen auf ihrer Irlandreise hier nicht abbiegen.
Info
Alle praktischen Infos für eine Reise auf die Dingle-Halbinsel haben wir Euch hier in unseren Reise-Tipps zusammengestellt.
UPDATE: Fungie ist seit Oktober 2020 nach 37 Jahren aus der Bucht von Dingle verschwunden. Was mit ihm geschehen ist und ob er wiederkommt, weiß niemand. Die Bootstouren verkehren trotzdem – und machen auch an den eindrucksvollen Klippen Halt. Mehr Infos in unseren Reise-Tipps zu Dingle.
Auch beim irischen Fremdenverkehrsamt findet ihr spannende Infos zur Dingle-Halbinsel.
Unterkunft: Gleich auf der Main Street liegt das Dingle Benners Hotel. Ab 120 Euro inklusive Frühstück.
Fungie: Bootstouren zu Irlands berühmtesten Delfin lassen sich am Hafen von Dingle buchen und kosten 16 Euro. UPDATE: Aktuell (Stand November 2020) ist er aus der Bucht verschwunden. Eine Bootstour lohnt dennoch in jedem Fall.
Gin: Dingle Gin wurde 2019 als »World‘s Best Gin« ausgezeichnet.
Fun Fact: In Dingle gibt es eine Eisdiele, die Eiscreme aus salzigem Meerwasser serviert. »Dingle Sea Salt« – und es schmeckt sogar!