Island ist ein Land der besonderen Fälle. Ein Land, wo Schäfchenzählen Tradition ist und Menschen leben, die aus Asche Kohle machen. Es ist ein Land, das täglich baden geht, aber alles andere als alltäglich ist. Auf Spurensuche im Süden des Landes! Text: Ulrike Klaas
Familie Gunnarsson baute sich einst ein hübsches Eigenheim – im Süden Islands, mit Blick auf den Nordatlantik und den gezackten Bergketten im Rücken. Eines Abends – Frau Gunnarsson hatte ein paar Schnittchen zum Abendessen vorbereitet – saß die Familie beisammen vor dem Fernseher, als urplötzlich neben dem Kamin eine Fontäne nach oben schoss. Familie Gunnarsson hatte auf einer heißen Quelle gebaut. Und der Traum vom Eigenheim? Der ging baden! Solche und ähnliche Geschichten hört man auf Island immer wieder. Die Vulkaninsel im hohen Norden ist gesegnet mit Erdwärme, quasi übersprudelnde Energie zum Nulltarif. Rund 600 brodelnde und blubbernde Quellen gibt es im Land – und diese gelten als wichtiges Kulturgut.
Ob nun als geothermal beheiztes Freibad oder als natürliche heiße Quelle – ein Bad in den sogenannten Hot Pots ist für die Isländer so alltäglich wie das Zähneputzen. Die heißen Quellen sind wie Cafés: Da wird geklatscht und getratscht, da sitzt der Maurer neben dem Wirtschaftsminister und diskutiert die Lage der Nation. Das Volk geht baden – und das täglich. In jedem Fall hat sich Island mit seinen diversen Hot Pots zum Hot Spot entwickelt. Jährlich besuchen mittlerweile 600.000 Touristen das Eiland aus Feuer und Eis.
Früher nur zur Hauptreisezeit von Juni bis August gut besucht, kommen vermehrt auch Touristen von Mai bis September. Dann herrschen ab und an zwar schon Temperaturen unter null Grad, aber umso schöner ist es, in eine der bis zu 45 Grad warmen Quellen zu hüpfen, während die Schneeflocken sich über die unwirtliche Landschaft legen. Fast schwerelos fühlt man sich in der Blauen Lagune. Ein intensives hellblaues, milchiges Wasser, das im Kontrast zu dem bedrohlich schwarzen Gestein und den Gebirgsketten fast unwirklich wirkt. Dampfwolken steigen aus dem Wasser und flüchten zu den Bergen. Die Blaue Lagune liegt nahe dem Flughafen und fasst sechs Millionen Liter 37 bis 39 Grad warmes, geothermales Meerwasser. Wie diese natürliche heiße Quelle entsteht?
»Das Wasser entspringt in 2.000 Metern Tiefe, wo es 240 Grad warm ist, und der Druck ist 36-mal größer als an der Erdoberfläche«,
erklärt die Dame an der Bar, wo sich die Badegäste Schlammpackungen und Peelings oder wahlweise auch stahlblaue Drinks kaufen können. Das Meerwasser komme in Kontakt mit abkühlendem Magma und würde dort Mineralien aufnehmen, die zusammen mit dem Salzwasser die wohltuende Wirkung unterstützen. Keime? Haben in diesem einmaligen Ökosystem, das gänzlich ohne Reinigungsmittel wie Chlor auskommt, keine Chance. Wer hier baden geht, möchte am liebsten endlos verweilen.
Aber spätestens, wenn Hände und Füße so schrumpelig aussehen wie eine vergammelte Zitrone, ist es Zeit, den Hot Pot zu verlassen und den nächsten Hot Spot aufzusuchen.
Der Fall der Fälle
Sie heißen Hjálparfoss, Gullfoss oder Seljalandsfoss. Sie stürzen sich Hunderte Meter todesmutig in den Abgrund und kommen am Boden der Tatsachen mit lautem Getöse auf. Auf Island scheint alles überzusprudeln vor Energie. Hier in diesem Land, das aussieht, wie vom Winde verweht, als hätte der Wettergott keine Gnade mit der Landschaft gehabt und nackte Steinwüste hinterlassen. Aufgeplatzte Steinerde, Geröll und schwarze geisterhafte, gezackte Berge, wohin das Auge blickt. Kein Baum. Kein Strauch. Kein Leben. Stattdessen schichtet sich neue Lava über alte Lava und prägt das Gesicht der Insel.
Doch wie kann etwas, das so karg und trostlos aussieht, dennoch so faszinieren?
Das Land strahlt mit jeder Pore eine Kraft aus, die berührt. Seien es die Geysire, die mit einer Antriebsgeschwindigkeit in die Höhe schießen, die kein Ferrari dieser Welt toppen kann. Die vielen Vulkane, die sich über alles erheben, die die Insel beben und Lava spucken lassen. Und die besonderen Fälle: Rund 450 Wasserfälle sind es, die unbenannten nicht mitgezählt. Einsam steht ein Angler in der Dämmerung im Becken des Hjálparfoss-Wasserfalls, der sich zwischen zwei prächtigen Basaltsäulen in die Tiefe stürzt.
Einzig die Hekla, der wohl bekannteste Feuerberg des Landes, erhebt sich träge im Abendlicht. Keine Lichter weit und breit. Nur der Mann und der Fluss. Island ist ein Land für zähe Burschen, für Einsame, die einsam sein können. Ein Land für besondere Fälle – schon von jeher. Denn einst schickte der norwegische König einen Gesandten auf eine Islandexpedition. Als dieser zurückkehrte, erklärte er dem König, die Vulkaninsel sei unbewohnbar. Das war vor 1.200 Jahren. Heute leben auf Island 320.000 Einwohner – zumeist an der Küste, denn der weiteste im Inland liegende Hof ist 46 Kilometer entfernt vom Küstenstreifen.
Auch die tierischen Bewohner sind ein Fall für sich: Als der Schnee in diesem Jahr früher als angenommen vom Himmel fiel, weideten die Schafe noch alle in den Bergen. Schäfchenzählen ist auf Island nämlich alte Tradition. Jedes Jahr im September werden die Schafe von den Bergen hinuntergetrieben und in die Ställe ihrer Besitzer gebracht. Eine Riesensache, denn teilweise leben rund eine Million Schafe auf der Insel.
Der Schneesturm im September begrub zahlreiche Schafe unter den Schnee- und Eismassen. Eine Herde wurde vier Wochen, etwas abgemagert, aber in einem relativ guten Zustand, geborgen. Ihr dickes Wollkorsett hatte ihnen das Leben gerettet. Unkraut vergeht nicht! Das gilt insbesondere für jenes Kraut, das die komplette Insel überzieht: Rund 400 Moosarten existieren, wobei das bei uns so bekannte Islandmoos gar kein Moos ist, sondern eine Flechte. Das wohl widerstandsfähigste? Das Lavamoos. Eine Amerikanerin nahm einst einen Schuhkarton voll Lavamoos mit in ihre Heimat, stellte ihn in der Speisekammer ab und vergaß das Mitbringsel. Sieben Jahre später entdeckte sie beim Umziehen den Karton wieder, goss das Moos – und siehe da: Es wuchs weiter. So wird es jedenfalls erzählt. Aber Vorsicht: Ein Isländer erzählt eine Geschichte niemals gleich.
Ein Bauer, der aus Asche Kohle machte
Entlang der Küstenstraße sehen die Inselberge aus wie gezeichnet. Gletscherhöhlen sind eingemeißelt in die Berge. Einst flüssige Lava ist zu abstrusen Gesteinsformationen erkaltet. Steine und Geröll, die sich immer wieder in die Tiefe schmeißen, haben den Bergen tiefe Wunden zugefügt. Und mittendrin grasen kuschelige Fellkugeln, die ab und an blökende Laute von sich geben. Ponys galoppieren mit wehender Mähne und hocherhobenen Hauptes vorüber, als wollten sie für eine Shampoomarke Werbung machen. Ponys? Wenn schon Islandponys, denn eine der unausgesprochenen Regeln auf Island lautet: Rede in Anwesenheit eines Isländer niemals von Ponys, er wird tödlich beleidigt sein.
Die Sonne sorgt für klaren blauen Himmel. Und zur rechten Seite glitzert der Nordatlantik im Sonnenschein. Island, das Land aus Feuer und Eis, scheint kein Wässerchen trüben zu können. Vor rund zweieinhalb Jahren, am 14. April 2010, sah es hier im Süden ganz anders aus. Es herrschte pechschwarze Nacht – auch tagsüber. Der 1.666 Meter hohe Vulkan Eyjafjallajökull hatte sich in ein Lava spuckendes Ungetüm verwandelt. Elf Jahre lang hatten Hofbesitzer Olafur Eggertsson und seine Familie auf den Ausbruch des unberechenbaren Nachbarn gewartet, der sich nur wenige Kilometer oberhalb des Gehöfts Thorvaldseyri befindet.
»Seit 1999 gab es Evakurierungspläne, als es dann endlich so weit war, waren wir eher erleichtert«,
erzählt der 60-Jährige heute, der in dritter Generation den Hof bewirtschaftet. In diesen elf Jahren hätten sie kaum gewagt, in den Urlaub zu fahren, weil sie da sein wollten, wenn es passiert. Anfang März 2010 bebte die Erde schon 3.000 Mal am Tag. »Da wussten wir, es kann nicht mehr lange dauern.«
Als am 14. April dann das Magma die Erdoberfläche des Gletschers durchbrach, bekam Eggertsson eine SMS auf sein Handy: Zeit, den Hof zu verlassen. Nur der älteste Sohn blieb in der Nähe, um die 60 Kühe im Stall zu versorgen. Der Fluss Markarfljót schwoll auf ein Hundertfaches an. Zweimal täglich bahnte sich der Sohn mit einem Spezialfahrzeug, Gesichtsmaske und Schutzanzug den Weg durch die Finsternis und Wassermassen. Die vom Vulkan ausgestoßene Asche schluckte das komplette Tageslicht. Den Hof fand er nur mithilfe von GPS. Für sonst fünf Minuten brauchte er eine Stunde bei einer Sicht von zwei Metern. Als die Familie nach einer Woche zum Hof zurückkehrte, bedeckte eine fünf Zentimeter dicke Ascheschicht Haus, Stall und Garten.
Der Ausbruch des sechstgrößten Vulkans Islands dauerte sechs Wochen. Immer neue Asche wehte hinunter und verlängerte die Säuberungsarbeiten. Heute kann man den Kampf der Familie Eggertsson gegen die Natur in ihrem Museum miterleben. Direkt an der Küstenstraße gelegen, mit Blick auf den Hof Thorvaldseyri am Fuße der Eyja-Gebirgskette, besuchten 60.000 Touristen das Eyjafjallajökull Visitors Center in den ersten 15 Monaten. Olafur Eggertsson ist eben der Mann, der aus Asche Kohle machte. So gibt es nicht nur den Film zur Katastrophe auf DVD zu kaufen, der auch in einem kleinen Kinosaal im Museum gezeigt wird, sondern auch Original-Asche, abgefüllt in einem Beutelchen. Auch Dinge wie »How to make an active vulcano cake« werden Schritt für Schritt auf einer Tafel erklärt. Bauer Eggertsson hat es eilig. Er muss das Korn noch sicher in die Scheune bringen. »Heute soll es noch Sturm geben«, sagt er. Zeit für eine letzte Frage bleibt:
»Haben Sie jemals erwogen, den Hof aufzugeben?«
»Nein, niemals«, sagt er und schwingt sich auf seinen großen Traktor. Der Alltag wartet. Aber alltäglich sind eben auch die Naturkatastrophen. In seinen 60 Lebensjahren hat der Farmer 24 Vulkanausbrüche hier im Süden mitgemacht, Erdbeben, Stürme und Jahrhundertwinter überstanden – und alles mit dem landestypischen stoischen Optimismus. In Olafur Eggertssons Stimme liegt Stolz, aber auch ein kleiner Anflug von Schaudern, wenn er über seine Heimat spricht. Ein Land, das eben alles andere als alltäglich ist!
Anreise. Mit Icelandair ab Frankfurt a. M., München oder Hamburg nonstop nach Island. Frankfurt und neuerdings auch München werden ganzjährig bedient, Hamburg nur in den Sommermonaten. www.icelandair.de
Übernachten. Stylisches Hotel im Hafen Reykjaviks: Icelandair Hotel Reykjavik Marina kostet ab € 100 die Nacht. www.icelandairhotels.com/hotels/reykjavikmarina
Golden Circle Route. Die Golden Circle Route verläuft im Süden des Landes. Auf ihr bekommt man alle Sehenswürdigkeiten zu sehen. Es ist eine Tagestour (9 bis 18 Uhr), bei der man in Reykjavik, der Hauptstadt, startet und an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten im Süd-Südwesten vorbeifährt, wie z. B. am Wasserfall Gullfoss und den bekannten Geysiren im Nationalpark Pingvellir, wo die nordamerikanische und die eurasische Kontinentalplatte aufeinandertreffen.
Blaue Lagune. Die Blaue Lagune liegt zwar nicht direkt auf der Golden Circle Route, ist aber einen Abstecher wert. Da sie nur zwanzig Minuten vom Flughafen entfernt liegt, lohnt ein Besuch vor dem Abflug. Täglich geöffnet. Eintritt kostet € 35. www.bluelagoon.com
Eyjafjallajökull Visitors Center. Das Museum von Familie Eggertsson liegt circa anderthalb Stunden von Reykjavik entfernt an der Südwestküste. Für Kinder ist der Eintritt frei, Erwachsene bezahlen umgerechnet € 4,50. Ganztägig geöffnet von April bis September, zwischen Januar und März sowie Oktober und Dezember am Wochenende. www.icelanderupts.is