Jede Stadt hat ihren eigenen Soundtrack. In Hamburg spielen Möwen begleitet von tiefen Bässen der Schiffshupen die Musik. New York klingt mit seinen schrillen Polizeisirenen gern mal wie die Titelmelodie eines US-amerikanischen TV-Krimis, und in der Hauptstadt von Vietnam kräht der Hahn zum Gehupe der Motorroller und das bereits morgens um fünf. Good morning, Hanoi!
Das hektische Hupen der Armada der insgesamt fünf Millionen Motorroller, die im Morgenverkehr der acht Millionenstadt gefühlt alle gleichzeitig auf mich zu rollen, ist vor dem ersten Kaffee eine echte Zumutung. In keiner anderen Stadt der Welt wäre ich wohl derart erleichtert, dass mich jemand beim Überqueren der Straße an die Hand nimmt wie in Hanoi.

Raissa Lara Lutolf Fasel
Dabei kann ich das eigentlich schon allein. Aber, nicht nur, dass die Gefahr von rechts kommt, wo ich auf links gepolt bin. Die Gefahr kommt in der zweitgrößten Stadt des Landes vor allem in der Überzahl, einer galoppierenden Bisonherde gleich, die unaufhaltsam auf mich zu rast. Augen zu und durch und dabei nur nicht die Hand, die mich führt, loslassen. Ich klammere.
Hanoi Kids
Die zarte Hand von Giang, meiner Begleitung, ist beinahe blutleer, hält mich trotzdem fest im Griff und zieht mich unbeirrt – todesmutig wie ich finde – durch die motorisierten Angreifer. Wir schaffen es unverletzt auf die andere Straßenseite. Bald wartet ein frisch aufgebrühter vietnamesischer starker Kaffee im Café Nhan auf uns. Langsam und stetig tröpfelt der schwarze Wachmacher durch den blechernen Filter. Zeit, unsere Tour zu planen.

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Giang ist eine Stadtführerinnen der Hanoi Kids, einer studentischen Organisation, die Gästen der Stadt anbietet sie an die Hand zu nehmen und ihnen ihre Heimat zu zeigen. Kostenlos. Mit viel Herz. Lediglich eine ordnungsgemäße Onlineanmeldung inklusive Reisepassnummerangabe braucht es. Wer mag, lässt sich wie ich direkt im Hotel abholen. Schon spaziere ich mit meiner neuen Freundin durch 36 Straßen des Old Quarters.
Giang erzählt mir, wie sie als Kind mit ihrer Großmutter hierher kam um Papiergeld zu kaufen, das später im Tempel verbrannt wurde. Good Luck! Ich staune über die wunderschönen vietnamesischen Trachten, die nicht nur die Porzellanpuppen in den Souvenir-Shops tragen, sondern auch die Vietnamesinnen auf der Straße. Ao Dai, weiß Giang. Auch der so typische Reishut ist aus dem Straßenbild nicht wegzudenken. Und dann sind da noch die Baguettes, die ein geschmackvolles Überbleibsel aus der Kolonialzeit der Franzosen sind.

Pete Walls
Schneewittchen und Onkel Ho
Wir wollen Onkel Ho, Revolutionär und Präsident des Landes, die Ehre erweisen. Der Nationalheld starb 1969. Sein ehemaliges Wohnhaus, ein kleines Holzhaus auf zwei Etagen, liegt gegenüber dem Präsidentenpalast. Seit 1975 liegt Onkel Ho, wie er noch heute verehrend genannt wird, aufgebahrt in einem gläsernen Sarkophag im Mausoleum am Ba-Dinh Platz. Hier hat er 1945 die Unabhängigkeit Vietnams ausgerufen. Jetzt sagt er nichts mehr während tagtäglich Bewunderer und Besucher an seinem Sarg vorbeiziehen. Fotos und auch stehenbleiben sind nicht erlaubt. Also weiter!

Hans-Jürgen Weinhardt
Giangs Englisch ist wirklich ziemlich gut. Wir können uns prima unterhalten. Ich frage sie, ob sie schon mal von einem Kaffee mit Ei gehört hat. Die Hanoi-Spezialität soll es im Café Giang geben. Ja, lacht sie, das Café trägt ja meinen Namen. Schon sind wir unterwegs. Allein hätte ich das Café nie entdeckt. Der Eingang ist kaum zu erkennen. Das Schild hätte ich nicht entziffern können.

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Kaffee mit Ei
Durch einen schmalen Korridor vorbei an einer Motorradwerkstatt, dann die Treppe hoch und wir sind da. Unspektakulär sieht es hier oben auf der kleinen Terrasse aus. Plastikhocker, einfache Tische, keine Touristen. Vietnamesen in der Kaffeepause. Wir bestellen. Kaffee mit Ei. Es gibt ihn auf Eis oder heiß. Ich habe nicht wirklich eine genaue Vorstellung, was da gleich auf mich zukommt. Rührei? Spiegelei? Osterei? Und dann ist der Kaffee da. Im Glas mit fingerdicker Creme. Appetitlich. Verführerisch. Verrühren soll ich. Okay. Der Löffel bleibt beinahe im Schaum stecken. Der erste Schluck. Und dann setzt in meiner Vorstellung die Musik ein, sanft und süß, so wie der Kaffee. Das Koffein am Ende ist ein Paukenschlag. Was für ein Hanoi-Erlebnis.

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Am Roten Fluss
Es wartet noch ein ganz besonderer Ort, abseits der ausgetretenen Touristenpfade auf mich. Im Dunkel der Nacht sind wir am Ufer des Roten Flusses gelandet. Das Tuhai ist ein traditionelles Restaurant ohne englische oder französische Speisekarte dafür mit neugierigen Blicken und mit viel Musik. Gesprochen wird eher wenig. Zum Trinken werden wir schnell eingeladen als eine Gruppe traditioneller Musiker und Musikerinnen die Luft verzaubern. Die Stimmen sind mir so fremd, die Musikinstrumente ebenfalls und doch schenkt mir Hanoi in dieser Nacht die Abschlussmelodie, die nicht herzergreifender klingen könnte. Der Lärm der Motorrollerhupen ist in weiter Ferne. Den Hahn überhöre ich.