Mit diesem Text verabschiedet sich unsere Autorin Susanne von den Lesern ihrer Kolumne »Von einer, die auszog, in Nepal zu leben.« Sie blickt auf die vergangenen Wochen in Kathmandu mit all ihren Höhen und Tiefen zurück – und steht vor einer schwierigen Entscheidung.
Montag, 2. März 2020. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit in einer Sprachschule und hab’s, wie so oft, etwas eilig. Liebend gern würde ich jetzt einfach einen Zahn zulegen. Geht aber nicht, denn ich stehe im Stau. Und zwar buchstäblich: Ich bin zu Fuß unterwegs und ich stehe im Stau.
Einen Bürgersteig gibt es hier nicht, ich habe mich links gehalten. Noch weiter links haben sich ein paar Motorradfahrer an mir vorbei gedrängelt. Oder besser: Sie haben es versucht. Jetzt geht hier nämlich gar nichts mehr. Zu beiden Seiten klebt Reifen an Reifen und Stoßstange an Stoßstange. Meine Augen suchen den Boden ab: Nirgends passt mein Fuß dazwischen. Die Flucht nach vorn ist auch keine Option, denn von rechts ragt genau vor mir ein Wäscheständer in den Weg, der auf dem Rücksitz eines Motorrollers festgeschnürt ist.
Kathmandu: Gefangen im Hupkonzert
Anscheinend ist weiter vorn eine Seitenstraße gesperrt, geht mir gerade noch durch den Kopf und dann schnürt mir ein markerschütterndes Dröhnen die Luft ab: Der Motorradfahrer neben mir haut auf seine Hupe, eine Millisekunde später stimmen andere mit ein. Kurz glaube ich, mein Kopf zerspringt – und brülle dann, kaum dass ich wieder Luft holen kann, wie von Sinnen den Typen neben mir auf dem Motorrad an. Das ist er wohl, mein unwürdigster Nepal-Moment.
Genau ein Jahr lang lebe ich in Kathmandu. Herausforderungen hat es seitdem so einige gegeben. Derart die Fassung verloren habe ich allerdings noch nie. Selbst gestern nicht, als ich schon einmal glaubte, nun aber wirklich den Tiefpunkt erreicht zu haben: Da kam ich von der Arbeit heim und vor unserem Haus stand ein riesiger Haufen Müll in Flammen. Die Firma, die kürzlich ins Nebengebäude gezogen ist, verbrannte auf dem Parkplatz sonderbar riechende Abfälle. Ich stand sehr lange sehr ratlos davor und sah den Rauchschwaden hinterher, die durchs Schlafzimmerfenster in unsere Wohnung zogen.
Hochzeit in Nepal: Tausend Gäste und Lebensfreude pur
Sonntag, 8. März 2020: Hochzeiten haben jetzt Hochsaison in Nepal! Ich bin mit Freunden auf einer Party, es ist die zweite diese Woche. Das Brautpaar kenne ich nicht, doch damit bin ich hier in bester Gesellschaft. Hochzeiten werden in Nepal traditionell groß gefeiert und »groß« heißt hier gern mal bis zu tausend Gäste, darunter Freunde von Cousinen und deren Freunde.
Ich stehe unter einem üppig mit pinken Stoffbahnen geschmückten Pavillon am Rande der Tanzfläche und lasse alles auf mich wirken. Die Gäste drehen sich umeinander und klatschen im Takt der Tabla-Musik, die aus den Boxen dringt. Eine fremde Frau winkt mich vom Rand zu sich heran und nimmt mich an die Hand: Ich soll mitmachen. Zwei ältere Männer mit Dhaka Topi, dem klassischen nepalesischen Männerhut, ziehen alle Blicke auf sich, weil sie besonders wild zur Musik in der Luft herumfuchteln und sichtlich Spaß dabei haben.
Ich bin von purer Lebensfreude umgeben. Und plötzlich – vielleicht liegt’s auch am Wein – rührt der Moment mich so sehr, dass mir Tränen in die Augen steigen.
»Dieses Land und seine Menschen«, geht mir durch den Kopf, »was haben sie nicht alles schon hinter sich: Zehn Jahre Bürgerkrieg mit andauernden Streiks, ein Erdbeben, bei dem Tausende ihr Leben und Tausende ihr Hab und Gut verloren, instabile Regierungen, von denen keine je hielt, was sie versprach.«
Das Coronavirus kommt mir an diesem Abend nicht in den Sinn.
Die folgenden Tage halten schöne Momente bereit und versöhnen mich wieder mit Kathmandu. Draußen wird es mild, sodass wir in unserer unbeheizten Wohnung endlich nicht mehr frieren. Beim Einkauf spreche ich jetzt Nepalesisch und eine Verkäuferin lobt mich dafür. »Kasto ramro bolnuhuncha!«, »Wie gut Sie sprechen!«, sagt sie und ich freue mich wie verrückt darüber, beschleicht mich doch noch immer ständig das Gefühl, die Sprache bleibt mir womöglich für immer verborgen.
Nepal in Angst vor Corona
Sonntag, 29. März 2020. Wie oft hab ich mir in den vergangenen zwölf Monaten gewünscht, Kathmandu wäre nicht so überfüllt und nicht so schrecklich laut. Nun, da die Straßen still und menschenleer sind, wünsche ich mir beinahe ihr Chaos und ihren Lärm zurück.
Seit fast einer Woche herrscht Ausgangssperre im ganzen Land. Zwar hat sich das Coronavirus bislang nicht in Nepal verbreitet, die Angst vor ihm greift umso stärker um sich. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Krankheit hier ausbricht, fürchten viele. Gewappnet ist Nepal für einen Ausbruch in keinster Weise. Kliniken fehlt es an Betten, an Schutzkleidung, an Tests und vielem mehr. Im ganzen Land beklagen Ärztinnen und Ärzte, Pfleger und Schwestern die Zustände seit Tagen – oder sie reichen Urlaub ein. Im Zweifel würden viele eher kündigen als so schlecht ausgestattet ihr Leben zu riskieren.
Das habe ich online in englischsprachigen Nachrichten gelesen neben Berichten über die Ärmsten in der Bevölkerung, die dringend Hilfe brauchen – Tagelöhner, die seit Wochen keine Einnahmen und deshalb auch nichts zu essen haben. Viele von ihnen fürchten sich mehr davor, zu verhungern als an Covid-19 zu erkranken. Parallel dazu lese ich auch die Nachrichten aus Deutschland. Dort greifen auch Ende März noch Kundinnen Angestellte im Supermarkt an, weil sie keine vier Packungen Klopapier bekommen.
Was nun aus Nepal wird, diesem Land, das so stark vom Tourismus und von Importen abhängt? Schwer zu sagen, ich hoffe inständig das Beste. Ob ich bleibe oder gehe – und zwar von jetzt auf gleich und ohne meinen Freund – ist eine Entscheidung, die ich genau jetzt treffen muss und eine, die mir sehr schwerfällt.
In diesem Moment weiß ich nur eines sicher: Dass Nepal mich in einem Jahr vieles gelehrt hat. Und dass ich dankbar dafür bin.
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