Unsere Autorin Susanne Helmer ist vor Kurzem in die nepalesische Hauptstadt Kathmandu umgezogen. Der Liebe wegen – aber auch, um ihre Komfortzone mal wieder ganz bewusst für eine Weile zu verlassen. Wie es sich da draußen so lebt, erzählt sie hier regelmäßig in ihrer Kolumne.
In den Straßen von Kathmandu
»Wahnsinn, was du alles auf dich nimmst, um bei deinem Freund zu sein«, sagt meine Freundin Maja. In einer Sprachnachricht habe ich ihr ausführlich von meinen ersten Wochen in Nepal erzählt und einen Schwung Fotos und Videos hinterhergeschickt. Majas Antwort klingt, nun ja, irgendetwas zwischen milde schockiert und anerkennend. Zweieinhalb Monate sind mittlerweile vergangen, seit ich meinem Herzen gefolgt und in Kathmandu gelandet bin. Mein Freund Ishan ist Nepalese. Nach zwei Urlauben in seiner Heimat, in denen ich das Land lieben lernte, beschlossen wir, vorerst in Nepal zu leben.
Nun ist es nicht so, dass mir das Folgende nicht klar war: Ein Alltag in Nepals Hauptstadt ist etwas anderes als ein Urlaub. Entsprechend lang ist die Liste von Dingen, mit denen ich mich schwer tue. Da wären die häufigen Stromausfälle in unserer Wohnung, die immer im ungünstigsten Moment auftreten, zum Beispiel wenn ich eigentlich gerade duschen will. Den Boiler kann ich dann nicht anstellen und das Wasser bleibt eiskalt. Oder, weitaus schlimmer, die miserable Luft: Kaum irgendwo auf der Welt ist die Luftverschmutzung gravierender als in Nepal, das hat wieder eine Studie bestätigt. Staub, Rauch und Abgase verpesten das Kathmandutal, eine Atemmaske gehört deshalb zum täglichen Outfit der Bewohner. Auch ich habe mir längst eine zugelegt, Filter zum Wechseln inklusive. Und dann wären da noch die Kakerlaken, die einem früher oder später hier begegnen. Sie sind – ich wünschte, ich würde übertreiben – locker dreimal so groß wie die gemeine deutsche Schabe. Und damit nicht genug: Die Viecher können fliegen.
Der Verkehr in Nepals Hauptstadt: Chaos, Gestank und Lärm
Aber nichts hat mich so viele Nerven gekostet wie der Verkehr auf Kathmandus Straßen. Sich als Fußgängerin durch die Stadt zu bewegen, ist eine Herausforderung für alle Sinne. Selbst an großen Kreuzungen gibt es keine Ampeln, hier regeln Polizisten den Verkehr. Sie halten Kellen mit der Aufschrift »Go« oder »Stop« in Richtung der unzähligen Motorräder und Autos und pfeifen schrill, wenn sich einer nicht dran hält. Manchmal geben die Ordnungshüter den Fußgängern Zeichen, wann sie die Straße gefahrlos überqueren können. Ansonsten finden die Wartenden das eben selbst heraus.
Bürgersteige, falls überhaupt vorhanden, sind uneben und nachts so kläglich beleuchtet, dass der Blick ständig am Boden klebt. Noch dazu stößt man andauernd auf Hindernisse. Fast täglich steige ich über Kabel, die bis zur Erde durchhängen, quetsche ich mich an den Hinterteilen von Kühen vorbei, die quer zur Straße stehen, weiche ich Steinhaufen und Abgründen aus, mache ich Platz für mobile Haushaltswaren- und Kleidergeschäfte, genauer: Händler, die ihre Ware auf Fahrrädern drapiert durch die Straßen schieben.
In Nepals Hauptstadt ist Hupen verboten … eigentlich
Vor allem meine Ohren leiden. Seit geraumer Zeit habe ich einen Traum: Wie durch ein Wunder gehen über Nacht die Hupen aller Fahrzeuge in ganz Kathmandu kaputt – und am nächsten Tag herrscht himmlische Ruh.
Mein Traum ist ein Albtraum für viele Fahrer hier, ist doch die Hupe ihr Allheilmittel. Sie hupen, wenn sie im Stau stehen (als würde das irgendetwas ändern), sie hupen, um sich vor schlecht einsehbaren Kurven anzukündigen (statt einfach das Tempo zu drosseln), sie hupen, damit andere Verkehrsteilnehmer in ihrer Spur bleiben (und sie ungestört wie die Henker vorbeibrettern können). Durchfährt es einen, weil man leider gerade direkt daneben steht, folgt mit Glück kein Tinnitus auf den Riesenschreck.
Dabei ist die rücksichtslose Huperei seit 2017 verboten: »No Horn« prangt vielerorts auf Schildern, darunter eine rot umkreiste, durchgestrichene Hupe. Wer erwischt wird, zahlt eine saftige Strafe. »Das hat wirklich was gebracht! Vorher war es noch viel schlimmer«, beharrt mein Freund. Vorstellen kann ich mir das nur schwer.
Kathmandu: Ziegen, die aus Taxis starren
Ishan ist den Verkehr in Kathmandu gewöhnt und zum Glück weder Huper noch Henker. Er nimmt mich häufig auf seinem Motorrad mit. Während der Fahrt beobachte ich das Treiben links und rechts am Straßenrand und weiß meist nicht, wohin ich zuerst schauen soll.
Regelmäßig geraten wir in einen Stau und noch nie hat mir das so wenig ausgemacht wie hier: Der Stillstand auf der Straße schenkt mir Zeit, mich umzusehen und alles in Ruhe auf mich wirken zu lassen. Einmal habe ich beim Warten eine Ziege entdeckt, die uns durch das Rückfenster eines Taxis anglotzte. Oft staune ich über die pechschwarzen Wolken, die aus den Abgasrohren der LKWs quillen. Und bis heute kann ich nicht fassen, dass so viele Frauen sich im Damensitz, mit beiden Beinen zu einer Seite, auf dem Motorrad durch die Gegend fahren lassen. Haben die keine Angst, runterzufallen? Einen Helm tragen sie natürlich nicht, die Helmpflicht gilt in Nepal nämlich nur für Fahrer. Meist bin ich die einzige Beifahrerin weit und breit, die einen Kopfschutz trägt.
Abends bin ich müde von den Eindrücken des Tages, aber fast immer erfüllt von einem Gedanken: So sehr mich der Alltag hier stresst, so sehr fasziniert er mich auch.
Auf der vielbefahrenen Bagmati-Bridge nehme ich eine neue Sprachnachricht für Maja auf. »Ja, manchmal ist es schon ziemlich anstrengend«, sage ich durch meine Maske ins Telefon, während neben mir ein Hupkonzert einsetzt. »Aber genau das habe ich ja auch gewollt.«