Volle Straßen, lange Schlangen und Getümmel vor den Sehenswürdigkeiten: Viele Städte und Inseln ersticken förmlich an den vielen Touristen. Die Einheimischen werden immer genervter, die Tourismusverantworlichen immer nervöser. Was also tun gegen »Overtourism«? Wir haben uns einmal umgehört.

7:00 Uhr, der Wecker klingelt. Viel Schlaf hatte Sofia nicht. Wieder knallende Türen, klirrende Gläser, kreischendes Gelächter. Die Wohnung der 28-jährigen Arzthelferin in Venedig ist die einzig dauerhaft bewohnte in dem Wohnhaus. Die anderen Wohnungen des dreistöckigen Gebäudes wurden umgebaut, zweckentfremdet. Müde schnappt Sofia ihre Tasche, kramt einen gelben Block, dann einen Stift heraus und schreibt darauf: »Bitte um Rücksicht, wir schlafen, arbeiten, leben hier.« Diesen Satz kann sie inzwischen im Halbschlaf kritzeln, in vier verschiedenen Sprachen. Zu oft hat sie diese gelben Zettel schon in den Flur gekleistert.

Ärzte weichen Souvenirshops

Venedig, die Lagunenstadt, sie droht zu versinken. Langsam, aber stetig. Forscher prophezeien, der Klimawandel und die Erhöhung des Meeresspiegels, könnten die Überflutungen Venedigs drastisch verschärfen. Eine Tatsache, die allerdings nicht prophezeit werden muss, ist die Überflutung Venedigs durch Touristenschwärme. Und das Konsequenzen: Ärzte weichen Souvenirshops, Traditionsläden machen Platz für überteuerte Touri-Restaurants, und Wohnungen werden zu Airbnbs. Jeden zweiten Tag wird aus einer herkömmlichen Wohnung eine B&B-Unterkunft; aus Wohnraum der Venezianer noch mehr Platz für noch mehr Touristen.

Viele Menschen stehen auf kleiner Brücke und kommen nicht voran.

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Venedig und die Überhand der Touristen ist der »Worst Case« für ähnlich überfüllte Städte wie Barcelona, Amsterdam aber auch für Inseln wie Mallorca und Malta. In Barcelona beispielsweise werden 75 Prozent der Unterkünfte als Airbnb vermietet, und auf Malta verbrachten 2017 unglaubliche 2,3 Millionen Touristen ihren Urlaub – bei einer Einwohnerzahl von 430.000!

»Der Tourismus zerstört, was er sucht, indem er es findet« Hans-Magnus-Enzensberger (1958)

Wie viele Touristen hält ein Ort aus? Unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen? Fragen, die unter dem Begriff »Overtourism« in der Tourismusszene heiß diskutiert werden. Die Stimmung kippt: Aus den Reiseanbietern, die lange als die »Good Guys« gefeiert wurden, die den Touristen Erholung und den Reiseorten Einnahmen bereiteten, werden nun Anbieter, die den Einheimischen die Heimat madig machen, die Schuld sind an überfüllten Straßen und überteuerten Mieten.

Tourist Go Home

Doch die Stimmung kippt nicht nur mit Blick auf die Tourismusindustrie. Auch die Besucher selbst, bekommen die Unzufriedenheit der Einheimischen zu spüren. Graffiti-Sprüche wie »Tourist Go Home« oder »Your tourism kills my neighbourhood« zieren immer häufiger Häuserfassaden und Wände betroffener Städte. Mittlerweile werden leider auch handfestere Rebellionen häufiger. Ob in Barcelona ein Stadtrundfahrt-Bus angegriffen wird oder auf Mallorca Kreuzfahrtgäste mit Pferdemist beworfen werden, klar ist: Handeln ist längst überfällig.

Tourist Go Home Graffiti

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Stockung, Verstopfung, Überflutung.

Nach der Flut kommt die Ebbe. Doch wenn man sich die Statistiken anschaut, erwartet das Meer an Touristen keine Ebbe, sondern nur noch mehr Fluten. Laut Voraussagen des »China Outbound Tourism Research Institut« soll die Zahl chinesischer Auslandsreisender bis 2030 von 150 Millionen auf 400 Millionen steigen. Denn in China besitzen derzeit nur knapp neun Prozent der Einwohner einen Reisepass. Zusätzlich steigt der Wohlstand in ganz Asien stetig.

Von den Umweltschäden der Ozeanriesen ganz zu schweigen, verursachen auch die Schnäppchen-Kreuzfahrten eine prozentuale Steigerung der Gäste um 870 Prozent (seit 1995). Dumping-Preise in Verbindung mit immer schnelleren Transportmöglichkeiten nannte Zukunftsforscher Robert Jungk als die Hauptursache der Probleme.

Zwei geankerte Kreuzfahrtschiffe mit Touristenandrang

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Tourismusforscher Jost Krippendorf untersuchte die »Tragfähigkeit« von Orten. Ein aus der Biologie abgeleiteter Begriff, der die maximale Anzahl von Organismen bezeichnet, die auf einem bestimmten Lebensraum existieren können. Allerdings ohne diesen gleichen Weges zu zerstören. Das Schlüsselwort soll »Balance« heißen. Das ist auch das Credo von Manon Zondervan von Amsterdam Marketing – einer Organisation, die eigentlich dafür sorgen soll, dass viele Touristen Amsterdam entdecken.

Erste Lösungsansätze: die Besucherströme lenken

Einheimische müssen sich immer noch wohl fühlen und Besucher sollen sich stets willkommen fühlen. Gesagt getan? So einfach ist das leider nicht. Bei iAmsterdam liegt das Hauptaugenmerk auf dem Umland. Wenn die Innenstadt überfüllt ist, müssen eben die Städte und Sehenswürdigkeiten drumherum attraktiv und leicht erreichbar gemacht werden. Verlässt man die Stadtgrenzen, trifft man häufig auf die Ursprünglichkeit eines Landes. Im Umland von Amsterdam kann man zum Beispiel die Malerstadt Haarlem oder die Provinz Noord-Holland mit ihren alten Windmühlen und traditionellen Handwerken erkunden. Sogar einen Strand gibt es unweit von Amsterdam.

Alte Mühlen an Fluss und Deich.

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Doch die Lösung von Amsterdam Marketing ist nur bedingt eine Lösung für die Probleme. Insgesamt scheint es, als bringe jeder bisher diskutierte Lösungsansatz erneute Probleme mit sich. Die Einbeziehung der Nachbarregionen muss beispielsweise lange vorgeplant werden und von vorne bis hinten durchgedacht sein. Denn viele der eher unbekannten Sehenswürdigkeiten können mit plötzlichem Andrang gar nicht umgehen.

Dieses Problem zeigt sich derweil öfter bei »geheimen Orten«, die in den sozialen Medien für Staunen und »Da muss ich hin«-Kommentare sorgen und Massentourismus verursachen. Städte wie Rom, mit schon immer da gewesenem Tourismus, konnten sich also langsam anpassen. Nebenregionen müssten diese Chance auch bekommen.

Hauptakteure Billigairlines

Eine durchaus umsetzbarere Lösung ist, die Tourismusregionen auch in vermeintlichen Nebensaisons attraktiv für Besucher zu gestalten. Denkt man beispielsweise an die steigende Zahl asiatischer Besucher, so ist die frische, herbstliche Bergluft in den Alpen sicherlich auch »beschnuppernwert«. Dafür müssten lediglich Angebote auf die jeweilige Reisezeit zugeschnitten und attraktiver umgesetzt werden.

Für den holländischen Tourismuswissenschaftler Paul Peeters ist klar: Die Airlines mit ihren Billigflügen sind die Hauptakteure in diesem Dilemma. Daher verlangt er höhere Landegebühren und höhere Steuern auf Kerosin. So sollen die Fünf-Euro-Flüge verhindert und die Anzahl internationaler Gäste vermindert werden. Frans van der Avert, CEO von Amsterdam Marketing schlägt halb sarkastisch, halb ernst vor: Baut keine Flughäfen! Gute Ideen, die ähnlich wie andere Steuerfragen demokratisch und marktwirtschaftlich kaum umsetzbar sind.

Wir müssen draußen bleiben

In Barcelona wurden durch Baustopps für Hotels und eine strenge Limitierung der Bettenzahl erste wichtige Maßnahmen ergriffen. Auch das Geschäft mit dem Vermieten privater Wohnungen durch Internetplattformen steht in vielen Ländern unter strenger Aufsicht. Die sogenannte »Zweckentfremdung« des Wohnraums wird mit hohen Summen von bis zu 400 000 Euro bestraft.

In deutschen Großstädten sind die Plattformen zur gewerblichen Vermietung zum Teil in den Blick der Behörden gerückt. Mallorca teilte die Insel in Zonen mit gesättigter und nicht gesättigter Gästebettanzahl. In gesättigten Zonen dürfen demnach keine weiteren Gästebetten entstehen. Dadurch soll die Verteilung optimiert werden und die ländlichen Regionen vom Tourismus profitieren.

Und ganz nach dem Motto »Wir müssen draußen bleiben«, hat Venedig bestimmte Stellen der Stadt für Touristen gesperrt und Umleitungen errichtet. Die Stadt Dubrovnik hat die Zahl der Altstadtbesucher auf 8.000 zur selben Zeit limitiert. Lösung oder doch eher klägliche Versuche? Immerhin erste Versuche, den Touristen-Wahnsinn in den Griff zu bekommen.

Rotes Local Access only Schild

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21:00 Uhr, nach einem langen Tag in der überlaufenden, weil einzigen Arztpraxis weit und breit, kommt Sofia ihre Straße hoch. Ihr kommt eine Gruppe junger Partygänger mit Bierflaschen entgegen, und vor dem Souvenirshop tummeln sich Paare und kaufen sich venezianischen Masken. »Ich kann sie nicht mehr sehen«, murmelt Sofia vor sich hin. An ihrem Haus angekommen, stapeln sich die Müllsäcke der Abgereisten. Immerhin stehen sie diesmal nicht im Flur.

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