An der irischen Westküste ist das Meer wichtiger Nahrungslieferant. Nicht nur für Fisch und Meeresfrüchte, sondern zunehmend für vegetarische Lebensmittel. Spaghetti, Salat und Gewürze werden am Strand geerntet, und sogar bei der Herstellung von Käse und Eis ist das Meerwasser entscheidend. Autorin Pia Hoffmann stellt das Superfood aus dem Meer vor.

In Gummistiefeln und Regenjacke balanciert Oonagh O’Dwyer über die glitschigen Felsen in der Bucht von Liscannor. Heute will sie »Spaghetti di Mare« kochen, und zwar nicht aus dem Nudelregal, sondern frisch aus dem Meer. Meeresspaghetti sind lange, dünne Braunalgen, die vorwiegend auf großen, flachen Felsen wachsen und im Deutschen auch Riementang genannt werden.

Essbare Braunalgen liegen an Küste

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Vorsichtig schneidet die Algen-Kennerin ein Büschel ab. »Seetang muss immer mit einer Schere oder einem scharfen Messer so abgetrennt werden, dass mindestens ein Drittel der Pflanze zurückbleibt«, betont sie. »Nur dann kann sie sich regenerieren.« Oonagh O’Dwyer ist so etwas wie eine Kräuterexpertin fürs Meer. Unter dem Namen »Wild Kitchen« produziert sie Gerichte aus Seetang, organisiert Algenkochkurse und nimmt interessierte Touristen mit zu den kleinen Felsbuchten entlang des Wild Atlantic Way, um ihnen zu zeigen, wie man sein Mittagessen nachhaltig und kostenlos erntet. Superfood aus dem Meer eben.

Pia Hoffmann

Meeresspaghetti in Lahinch im County Clare

Besonders gut gedeihen Meeresspaghetti rund um das Surfer-Paradies Lahinch im County Clare. »Hier ist das Wasser klar und frei von Schadstoffen«, erklärt sie.

»Es gibt das ganze Jahr über reichlich Tang, aber am besten ist die Ernte nach Neu- oder Vollmond, wenn die Springflut neues Pflanzenmaterial mitbringt.«

In Irland können auch unerfahrene Sammler nicht viel falsch machen, denn die wenigen ungenießbaren Sorten kommen in irischen Gewässern nicht vor.

County Clare in Lahinch, Irland

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»Man sollte aber nie große Mengen auf einmal ernten, um das Ökosystem nicht zu stören«, warnt die naturverbundene Irin. Das ist auch nicht nötig, denn der strenge Meergeschmack ist gewöhnungsbedürftig. So richtig definieren kann ihn keiner der Exkursionsteilnehmer. Das liegt daran, dass er nicht den vier gängigen europäischen Geschmacksrichtungen süß, sauer, salzig und bitter entspricht. In Japan gibt es daher eine fünfte Geschmacksbezeichnung.

Superfood aus dem Meer: Spagetti

Pia Hoffmann

»Umami« beschreibt eine vollmundige, herzhafte Würze, die faden Gerichten Komplexität verleiht. »Die Rezeptoren auf der Zunge explodieren regelrecht, wenn man in eine Alge beißt«, schwärmt Oonagh O’Dwyer, »ein bisschen wie bei Austern oder Sardellen.« Sie selbst schnibbelt die Meerespflanzen in Suppen und Salate, mixt daraus Smoothies und streut sie über Rührei, Brot oder Müsli. Frische Meeresspaghetti können sogar roh gegessen werden. »Am besten schmecken sie aber, wenn sie ein paar Minuten gekocht sind«, verrät die Expertin. »Man kann sie auch unter normale Spaghetti mischen. So bringt man Kinder dazu, Vitamine zu essen!«

Getrocknete Algen als Snack

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Gesunde Algen: Seetang

Algen enthalten Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente, vor allem Jod, in hoher Konzentration. »Seetang ist das neue Superfood – nahrhaft, nachhaltig und gratis«, unterstreicht die irische Fachfrau.

»Lappentang enthält alle 56 Vitamine und Spurenelemente, die der Mensch braucht. Wir könnten also allein von Seetang leben, und es gibt genug davon, um die gesamte Menschheit zu ernähren.«

Getrockneter Lappentang ähnelt knusprigen Chips, aber er schmeckt auch als Brotaufstrich mit Oliven, Zwiebeln und Knoblauch. Dazu vielleicht eine Handvoll giftgrüner Meeressalat? Nori, die aus japanischen Restaurants bekannten schwarzen Sushi-Blätter, sind übrigens keine Modeerscheinung, sondern haben schon während der Großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts den Menschen an der irischen Küste das Überleben gesichert. »Nori wächst hier auf großen exponierten Felsen, die nie ganz von Wasser bedeckt sind«, weiß die Algenexpertin.

Nori-Blätter: Superfood aus Algen

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Carrageen aus Rotalgen wird in Gesichtscremes verwendet. Aber auch Blasentang soll die Haut glätten. Zum Beweis zerquetscht die Irin die olivenähnlichen Bläschen der Pflanze und drückt das dickflüssige Gel auf die Handrücken ihrer Zuhörer, die nach kurzem Verreiben begeistert nicken. Luxushotels wie das Parknasilla Resort & Spa am Ring of Kerry bieten ihren Gästen Seetang-Bäder und Badezusätze zum Mitnehmen an. »Damen bekommen davon seidige Haut; bei Herren verheilen Schürfwunden schneller«, schmunzelt Hoteldirektor Tony Daly.

Schnittkäse Dilliskus mit handgepflückten Algen

Auch die Käserin Maja Binder-Beaujouan aus Brühl-Rohrhof, die vor über 20 Jahren auf die Halbinsel Dingle auswanderte, geht oft zum Strand, um Lappentang zu ernten. Ihr Superfood aus dem Meer ist der Schnittkäse Dilliskus mit handgepflückten Algen. Der hat sich zur regionalen Spezialität entwickelt und zahlreiche Preise gewonnen. »Wenn er jung ist, hat er einen leichten Fischgeschmack; wenn er älter wird, erinnert er an Gemüsebrühe mit Weißwein. Auf jeden Fall passt er gut zum Guinness«, lacht sie.

Superfood aus dem Meer: Käse aus Irland

Pia Hoffmann

Aber auch Käsesorten ohne Algen schmecken nach Meer. »In Irland gehen die Kuhweiden bis ans Wasser. Gras und Luft sind dort sehr salzhaltig, und so schmecken auch Milch und Käse leicht salzig.« In ihrem »Little Cheese Shop« verkauft die Deutsche ihren eigenen Rohmilchkäse. »Bei nicht pasteurisiertem Käse geht es um Nuancen. Wenn die Weide nur zwei Kilometer weiter weg läge, würde der Käse schon anders schmecken.«

Kein Wunder, dass die beliebteste Geschmackssorte in der Eisdiele »Murphy’s Ice Cream« im Ferienort Dingle das Meersalz-Eis ist. Auf der Suche nach dem Geschmack des Sommers war Besitzer Kieran Murphy auf die Idee gekommen.

 

»Ich dachte mir: salziger Schweiß, Salz auf der Haut und der Geschmack von Meer auf den Lippen – das ist Sommer.«

Ein erster Versuch mit handelsüblichem Kochsalz scheiterte. Erst als er das Meerwasser aus der Bucht von Dingle selbst abkochte und die Kristalle unters Eis mischte, entstand die gewünschte salzige Karamellnote. »Am Anfang fanden die Leute das komisch«, erinnert er sich, »aber heute ist unser Meersalz-Eis der absolute Renner!«