Die Hauptstadt Estlands ist gerade im Sommer ein Touristenmagnet. Aber selbst bei wenig frühlingshaften Temperaturen und noch weniger Zeit kann man es in Tallinn bestens aushalten. Unser Autor Andreas Dauerer hat es selbst ausprobiert. Sein Fazit: Unbedingt hinfahren.

Die erste Überraschung wartet bereits auf der Fähre von Helsinki nach Tallinn. Nicht etwa, weil ich so früh morgens noch müde bin und die Sonne sich schwer tut, das finnische Grau am Himmel zu durchbrechen. Wir sind seit gerade einmal 15 Minuten unterwegs und schon steht eine Band auf der Bühne und mit ihr beginnen die Passagiere direkt das Tanzbein zu schwingen. Quer durch alle Altersschichten wird zu finnischem Liedgut geschwoft, während die Dieselmotoren den Rhythmus leise torpedieren und das Schiff sanft durch den an vielen Stellen vereisten finnischen Meerbusen schieben.

Hafen von Tallinn

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In der Luft hängt schnell eine Mischung aus Sekt, Bier und Schweiß. In der musikalischen Pause fallen mir dann doch die Augen zu und ich träume mich ein wenig auf die andere Seite des Meerbusens. Tallinn wartet. Viel gepriesen und von Helsinki aus gerade einmal in zwei Stunden mit der Fähre zu erreichen.

Schön entspannt: ein Besuch Tallins außerhalb der Touristensaison

Im Hafen von Tallinn spült die Fähre pünktlich ihre Fracht an Land, und die Passagiere strömen meist zu Fuß in die kleine Stadt. Von Massen kann jedoch keine Rede sein. Der Frühling hat noch nicht richtig angefangen, an vielen Stellen liegt immer noch Schnee. Im Sommer kann man sich vor lauter Menschentrauben nicht mehr retten, insbesondere an Wochenenden. Dann kommt vor allem finnisches Partyvolk aus Helsinki angereist. So zumindest wird mir das erzählt. Und genau deshalb wollte ich jetzt nach Tallinn, außerhalb jeglicher Saison.

Mein erster Eindruck? Schön. Der zweite? Fast zu schön. Seit 1997 gehört die Altstadt zum Unesco-Weltkulturerbe und ich frage mich, ob ich nicht vielleicht doch in irgendeinem Puppenhaus gelandet bin. Kleine, schiefe Kaufmannshäuschen, Speicher, Giebel und unten holprige Straßen und winzige Gassen – natürlich kopfsteinbepflastert.

Altstadt von Tallinn

Andreas Dauerer

Vor einigen Läden versuchen Männer in mittelalterlichen Gewändern die Aufmerksamkeit der wenigen Touristen auf sich zu ziehen. Mir kommt es so vor, als sei ich in einer riesigen Mittelalter-Filmkulisse geraten, die händeringend versucht, mich in ihren Sog zu ziehen. Aber, ich nehme es vorweg, das schafft sie nicht.

Bitte nicht falsch verstehen, natürlich ist die Altstadt sehenswert, aber sie ist derart perfekt saniert und aufgehübscht und voll auf Tourismus ausgelegt, dass ich sie schon wieder eine Spur zu langweilig finde. Dicke Stadtmauern, Souvenirläden voller »traditioneller« Strickwaren und Schaffelle, Restaurants, dazwischen ein paar Bekleidungsgeschäfte und Museen und jede Menge Kirchen.

Im Sommer wird es in Tallinn ganz schön wuselig

Man hat ein bisschen zu tun, wenn man hier kreuz und quer durchspaziert und ich frage mich allmählich, wie das tatsächlich im Sommer aussehen mag, wenn hier die Touristenhorden aus aller Herren Länder einfallen. So wird es mir zumindest immer erzählt und es scheint viel Wahres dran zu sein. Ich stehe mit nur einer Handvoll anderer Besucher da und kann mich schwerlich von den wunderbaren Fassaden losreißen. Hinter mir duftet es nach gebrannten Mandeln, die eine Magd an der Ecke hinter mir verkauft. Es weihnachtet. Im April.

Ich möchte ein bisschen Ausblick genießen. Also nichts wie hinauf auf den Domberg in die Oberstadt. Je höher man steigt, desto exklusiver werden die Immobilien. Auch der deutsche Botschafter residiert hier, direkt gegenüber der Alexander-Newiski-Kathedrale.

Alexander-Newiski-Kathedrale in Tallinn

Andreas Dauerer

Die Ende des 18. Jahrhunderts erbaute russisch-orthodoxe Kirche ist ein Hingucker. In den Zwiebeltürmen sind insgesamt bleich elf Glocken untergebracht, die allesamt in St. Petersburg gegossen wurden.

Den Ausblick hat man hier jedoch noch nicht. Ich muss noch weiter gen Nordosten, vorbei am Wahrzeichen der Stadt, dem Tallinner Dom, der im Vergleich zur Kathedrale doch viel karger ausgeschmückt ist weiter in Richtung »Veinitehas Luscher & Matiesen«, dem Museum estnischer Trinkkultur. Kurz vorher biege ich aber scharf rechts ab auf eine Terrasse. Ein wunderbaren Blick eröffnet sich mir plötzlich und ich stehe gewissermaßen über den Dächern der Alt- und Neustadt – und genieße die Ruhe.

Kalamaja – das Stadtviertel der jungen Kreativen

Auf der anderen Seite gehe ich dann in Richtung Kalamaja, ein nach wie vor aufstrebendes Viertel, das junge Kreative längst für sich entdeckt haben und heute auch die Kunstszene der Stadt beherbergt.

Kalamaja district in Tallinn, Estonia

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Hier kann man ausgehen, flanieren, es sich gut gehen lassen. Ich möchte in die Telliskivi Creative City und mich ein wenig berauschen lassen. Der Nachteil im auslaufenden Winter: Draußen spielt sich noch nicht so viel ab, die Installationen und Ausstellungen sind dem warmen Wetter vorenthalten.

Zu sehen gibt es aber doch etwas, vorwiegend Design- und Ökoläden, von Klamotten über Pflanzen bis hin zu Accessoires, die eigentlich niemand braucht, ist die Bandbreite entsprechend groß. Ein klein wenig bin ich enttäuscht. Im Nebengebäude, da, wo tatsächlich Ideen entstehen und Kunst gemacht wird, sind die Türen geschlossen. Verständlich, auch die Künstler wollen einmal ihre Ruhe haben – oder bereiten sich schon gedanklich auf die Besucherströme im Sommer vor. Ich setze mich ins Reval Kaffee, trinke einen hervorragenden Americano und gucke mir die Leute an, die sich kaum von den Hipstern in Berlin-Neukölln unterscheiden. Da möchten sie alle unterschiedlich wahrgenommen werden und uniformieren sich trotzdem wieder. Mysterien der Neu-Zeit.

Draußen ist es schon dunkel und ich habe Hunger. Juka, mein Lieblingsmitarbeiter im Hotel in Helsinki und großer Tallinnfan, hat mir einen Tipp mitgegeben. »Geh ins Must Puudel. Leckeres Essen, gute Atmosphäre.« Das mache ich auch. Also zu Fuß einmal quer von Kalamaja wieder in die Altstadt in die Müürivahe, eine kleine Gasse, die sich direkt hinter der dicken Stadtmauer entlang schlängelt. Das Café könnte auch in Kalamaja stehen, aber es ist eine Spur »ehrlicher«.

Vergnüglicher Abend im »schwarzen Pudel«

Aus den Boxen gedämpfte Indie-Klänge, das Publikum ist bunt gemischt, viele Einheimische, ein paar Touristen, die sich in dem Retro-Ambiente sichtlich wohlfühlen. Wichtiger sind aber noch zwei andere Dinge: Das Bier vom Fass, in diesem Falle: Saku, ist hervorragend und genau das, was ich brauche. Und das Essen ist es ebenso. Ich bestelle eine halbe Avocado vom Grill mit Ziegenkäse und Salat. Im wahrsten Sinne des Wortes eine interessante Mischung. Aber sie schmeckt. Der »schwarze Pudel«, wie der Laden übersetzt heißt, wird immer voller und die Musik ein bisschen lauter.

Im Sommer gibt es einen Innenhof, wo man gemütlich sitzen und trinken kann. Dann macht es auch nichts aus, wenn der Laden um 23 Uhr dicht macht, denn genau das tut er. Eigentlich bin ich noch in Stimmung, um ein klein wenig weiterzuziehen, aber als sich die Tür des Puudel hinter mir schließt, ist es verdächtig still.

Also gehe ich in mein Hotel und nehme einen Drink an der Bar. Das Centennial ist brandneu und keine fünf Minuten von der Altstadt entfernt, direkt hinter der Nationalbibliothek.

Bar im Centennial Hotel Tallinn

Centennial Tallinn

»Wir genießen die Ruhe«, erklärt mir der Barmann. »In den Sommermonaten gehört Tallinn den Touristen, aber in den kalten Monaten haben wir die Stadt nur für uns«. Ein schwacher Trost, wenn dafür die Lokale früher dicht machen. Das behalte ich natürlich für mich. Müde und erledigt falle ich in einen ruhigen Schlaf.

Die klaren Formen und das nordische Interieur meines Zimmers, nehme ich erst am nächsten Morgen so richtig wahr. Mir gefällt es gut, kein unnützer Schnickschnack und trotzdem gemütlich.

Bett im Hotel Centennial in Tallinn

Centennial Tallinn

Hingucker ist das geräumige Bad und, das muss ich zugeben, ich habe noch nie ein helleres Badezimmer in einem Hotel gesehen.

Bei einem ausgiebigen Bad mag das stören, aber natürlich muss man nicht immer in Festbeleuchtung starten, wenn man die Massagedüsen in Anspruch nehmen möchte. Ich probiere das aus, jedoch erst beim nächsten Mal.

Vor der Abreise noch schnell ins Truman zum Haareschneiden

Ich muss zeitig los, meine Fähre läuft bereits Mittag wieder aus. Das Frühstück im Hotel ist so reichhaltig, dass ich mich gar nicht entscheiden kann. Früchte oder doch Müsli (beides in großer Auswahl) oder das estnische Brot, von dem viele so schwärmen? Oder doch ein klassisches Rührei? Letzteres darf es dann sein, mit Brot natürlich.

Es muss ja schnell gehen, denn ich habe noch eine Mission. Haare schneiden. Im Truman, der Name ist dort schließlich Programm. Als ich den Laden in der Rävala Straße Nummer 5 betrete, herrscht gähnende Leere – und der Name ist überhaupt nicht Programm. Im Gegenteil, zwei Damen stehen hinter dem Tresen. »Yes sir, we are free«, flötet Tina mit blondierten Haaren und weißem Kittel und erinnert darin eher an eine Arzthelferin. Ob ich etwas trinken wolle, gerne Wasser und einen Kaffee. Ich möge Platz nehmen. Offenbar ist der Friseurmeister noch nicht da.

Das Interieur ist dennoch mehr als stimmig. Vier alte Friseurstühle, wie man sie aus amerikanischen Filmen kennt, dazu große Spiegel, davor jeweils das Waschbecken mit Aussparung und direkt daneben liegen fein aufgereiht Pomade für Kopf- und Gesichtsbehaarung sowie sämtliche Aufsätze für die Schneidemaschine.

Nur der Mann fehlt, der in schweren Stiefeln und dicker Jeanshose mit seinen zurück gegelten Haaren mir einen angemessenen estnischen Haarschnitt verpasst. Wenn ich auf den aber warten würde, wäre ich vielleicht immer noch da. Tina schneidet mir nämlich die Haare. »How do you want your hair cut?« Nun ja. Kürzer eben. »Classic Cut?«, fragt Tina.

Ich komme wieder, Tallinn

Damit kann man nichts falsch machen, finde ich und schon summt die Maschine um meinen Kopf herum. Das dauert 12 Minuten, dann werden die Haare gewaschen und anschließend oben geschnitten. Jetzt habe ich tatsächlich doch noch geschafft und sehe aus wie ein Berliner Hipster. Zumindest oben rum. Oder ein estnischer, so genau weiß ich das schon gar nicht mehr. Ich jedenfalls mache mich mit meinem Classic Cut auf zur Fähre. Helsinki wartet schon. Nach Tallinn muss ich aber noch einmal. Vielleicht im Herbst.

Infos. Eine Übernachtung bietet sich im Hotel Centennial an (Endla 15, 10122 Tallinn). DZ ab 65 Euro, die Zen-Deluxe-Zimmer ab 145 Euro.

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