Kühn, kraftvoll und vor allem menschlich: Die Architektur in Kanada passt zur Natur des Landes und unterstreicht die tiefe Verbundenheit der Bürger mit ihrer Heimat. Wie sie das macht? Mit dem Mut, sich auf die eigene Kultur, natürliche Materialien und die wahren Bedürfnisse der Menschen einzulassen. Ach ja – dass in Kanada einige der berühmtesten Architekten der Welt ihre Ideen umgesetzt haben, dürfte auch eine gewisse Rolle spielen.

Baumeister Frank und seine Kollegen

Der berühmteste Architekt Kanadas? Da gibt’s keine zwei Meinungen. Wir reden über Frank Gehry. Der Mann ist stolze 94 Jahre alt und lebt in Kalifornien. Geboren und aufgewachsen ist er allerdings im kanadischen Toronto. Für die New York Times gilt der Architekt und Designer als »höchstgepriesener Architekt seit Frank Lloyd Wright«. Sein unverkennbarer Stil: extrovertierter Dekonstruktivismus.

ART Gallery Toronto Treppe von Gehry

Foto: Shutterstock.com/Daniela Constantinescu

Er hat Bauten wie das Guggenheim Museum in Bilbao, das Tanzende Haus in Prag oder die Disney-Konzerthalle in Los Angeles konzipiert – und in seiner Heimat in Toronto erst 2019 die traditionsreiche Art Gallery of Ontario im neomodernistischen Stil überholt. Der Mann wird auch im Alter nicht müde. Erst 2022 hat er sein neues Projekt vorgestellt. Die Forma Condos sind zwei spektakuläre Wohntürme, die in Torontos Entertainment District an der King Street West gebaut werden. Fertigstellung des ersten Towers: 2028.

Architektur in Kanada

Foto: Hanzala Hafeji

Wer Toronto kennt, dürfte noch einen weiteren architektonischen Meilenstein entdeckt und dem großen Meister Gehry zugeschrieben haben. Das Royal Ontario Museum sieht aus, als habe Gehry hier überdimensionale Geodreiecke aus Stahl und Glas ineinander verschachtelt. Typisch halt. Ha – falsch. Das war gar nicht Gehry, sondern sein nicht minder berühmter Kollege Daniel Libeskind. Der in New York lebende Kosmopolit hat seine kreative Handschrift eben auch auf der ganzen Welt hinterlassen.

Habitat 67 von Moshe Safdie

Foto: Philippe Collard

Moshe Safdie gilt als herausragender kanadischer Architekt, der vor allem für das weltbekannte Habitat 67 bekannt ist. Zwar wurde Safdie im israelischen Haifa geboren, kam allerdings schon als Jugendlicher nach Kanada und studierte Architektur in Montreal. Das passt, denn das Habitat 67 baute er genau dort. Es ist ein gewaltiger Wohnhauskomplex, der aus 158 übereinander gestapelten Apartments in 354 Würfeln besteht, die zum Teil in der Luft zu schweben scheinen. Der Clou: Aus jeder Wohnung hat man einen freien Blick auf die Stadt und den St.-Lorenz-Strom. Dieser Gebäudekomplex ist eines der Wahrzeichen Montreals, das auch fast 60 Jahre nach seiner Fertigstellung noch hypermodern wirkt.

Architektur Chan Center von Bing Thom

Foto: Sean Lee

Wer über namhafte kanadische Architekten spricht, darf auch Bing Thom nicht vergessen. Als Zehnjähriger kam er mit seiner Familie aus Hongkong nach Vancouver und entwickelte sich dort zu einem der kreativsten Baumeister und Stadtplaner des Landes. In Kanada ist er zum Beispiel für den Chan Center for Performing Arts in Vancouver oder das Aberdeen Center in Richmond bekannt – und für seine empathische Art und das spitzbübische Lachen, mit der er dem architektonischen Nachwuchs in Kanada immer wieder neue Perspektiven eröffnete.

 

Kanada wählt Grün!

Kreativität, Exzellenz, Mut, Innovation – für all das ist Kanadas Architektur auf der ganzen Welt ein Vorbild. Doch ohne eine wichtige Voraussetzung wäre all das nur Makulatur: Nachhaltigkeit lautet der Begriff, der in Nordamerika zwischen British Columbia, Manitoba und Quebec großgeschrieben wird. Und wieder ist es Frank Gehry, der auch hierfür eine Art Mission Statement liefert:

»Wir, die sie betreiben, glauben an das Potenzial der Architektur, einen Unterschied zu machen, das Abenteuer Menschheit zu bereichern und Barrieren einzureißen.«

Sein Ziel: menschenfreundliche Räume, gesunde Umwelt. Ein Leuchtturmprojekt in dieser Hinsicht, das all diese Bedingungen erfüllt und gleichzeitig als ästhetische Offenbarung gilt, ist das Vancouver Convention Centre. An

Architektur in Vancouver von Frank O. Gehry

Foto: Shutterstock.com/Ilaria Vecchi

der malerischen Waterfront Vancouvers gelegen, wirkt das Gebäude auf den ersten Blick wie ein mächtiges, strahlend illuminiertes Kreuzfahrtschiff.

Die Qualität liegt im Detail: Es verfügt über ein begrüntes, sechs Hektar großes Dach mit vielen Bienenstöcken und ist das erste Doppelt-Platin-zertifizierte Kongresszentrum der Welt. Und wer jetzt nicht weiß, was das genau heißt: Nachhaltigkeit wird in vier Stufen gemessen. Zertifiziert, Silber, Gold, Platin. Mehr als Platin geht also nicht. Für Kanadas Anspruch aber auch nicht weniger.

 

Vorreiter British Columbia

»Menschen, die verrückt genug sind zu denken, sie könnten die Welt verändern, sind diejenigen, die es auch tun.« Wer hat‘s gesagt? Falsche Frage. Besser: Wer hat‘s getan? Ein paar Architekten in British Columbia zum Beispiel. Die haben das erste Passivhaus Nordamerikas gebaut, in Revelstoke. Das Architekturbüro Stark Architecture verwendete für seine Boden- und Dachplatten smarte Holzsysteme und dämmte mit schlichten Holzfasern. Wer sich dieses Pionierhaus einmal ansehen möchte, kann das auch gleich mit dem Besuch des Adventure Bike Shop Tantrum Ride im Erdgeschoss des Gebäudes verbinden. Die Verbindung zur kanadischen Natur wird eben auch in sportlicher Hinsicht aufrechterhalten.

Modernes Architektur-Holzhaus i British Columbia

Foto: Instagram @starkarchitecture

Nicht weniger ambitioniert ist das Audain Art Museum im schicken Ausflugsort Whistler in der Nähe von Vancouver. Das Museum – optisch ein durchaus bemerkenswertes Schrägdachunikum – steht mitten im Wald und ist nur über einen Glassteg zugänglich. Auf diese Weise wird die umliegende Natur nicht überdeckt, sondern im Gegenteil besonders hervorgehoben. Auch an die Tücken der Umgebung wurde bei der Planung gedacht. Im Winter führen Schneeschmelze und Überschwemmung des nahe gelegenen Bachs stets zum Wasserchaos in Parterre. Also erhöhte man das Museum kurzerhand um einen Stock und entkommt nun den Widerständen der Natur, ohne dabei seine zeitlos elegante Form zu beeinträchtigen.

Museum in Whistler mit moderner Architektur

Foto: Shutterstock.com/ Carolyne Parent

Früher baute man Holzhäuser, weil man es nicht besser wusste. Heute baut man sie, weil man es besser weiß. So schwört etwa der bekannte Architekt Michael Green aus Vancouver auf die Verwendung nachhaltiger Holzprodukte in der urbanen Architektur. Er setzt sich für bis zu 30 Stockwerke hohe Bauten ein, die zum größten Teil aus recyceltem Holz bestehen. Der Grund leuchtet ein: Das Holz ist die umweltfreundliche Alternative zu Stahl und Stahlbeton. In British Columbia wurde dieses Prinzip bereits bei 370 Bauten angewendet. Das Leuchtturmprojekt dieses Trends ist sicher das Brock Commons Tallwood House an der Universität von British Columbia. Es galt 2017 nach seiner Fertigstellung als höchstes Holzgebäude der Welt. Ein weiterer Beweis auch dafür, dass British Columbia das Image als Vorreiter nachhaltiger Architektur zu Recht anhängt. Was dann ja irgendwie auch gut zu dem Zitat passt, das am Anfang dieses Absatzes steht. Wir wollen lösen: Es stammt von Steve Jobs – mehr Vorreiter geht dann auch kaum.

Studentenwohnheim Brock Commons

Instagram @liveatubc

Nova Scotia verbindet Architektur und Kultur

Das Design ist atemberaubend, seine Lage an der historischen Waterfront von Halifax ein buchstäblich feuchter Traum: Seit dem Sommer 2021 bürgt The Muir aus der exklusiven Autograph Collection von Marriott in Nova Scotia für Gastfreundschaft der gehobenen Art. Es ist mit seinen 110 Zimmern Bestandteil eines 200-Millionen-Dollar-»Mixed Use-Projekts und möchte auf eine distinguierte Weise daran erinnern, was Nova Scotia einst war: eine große Seefahrerregion nämlich.

The Muir Halifax

Foto: Shutterstock.com/Patrick Hatt

Weil man derlei Ansprüchen aber nicht immer nur mit theoretischem Überbau auf einer Infotafel gerecht wird, hat man in Halifax auch noch sehr konkret an die Kultur des Hauses und die dazugehörige Kunst gedacht. Zum Umfeld des Hotels gehört die beeindruckende Installation Tidal Beacon – gleichzeitig Hommage an den Sambro-Island-Leuchtturm wie schnöder Gezeitenwächter an der Wasserkante.

Nur ein Beweis dafür, wie wichtig den Menschen in Nova Scotia das Zusammenspiel von Architektur und regionaler Kultur ist. Das gilt auch für die neue, noch im Bau befindliche Art Gallery of Nova Scotia. Sie wird vermutlich erst 2025 fertiggestellt – man darf sich bereits jetzt auf ein außergewöhnliches Design freuen, das sich an der Formensprache der uralten Mi’kmaw-Kultur orientieren wird. Das spiegelt sich etwa durch die spitze Hutform am Eingang des Gebäudes wider, das den traditionellen Kopfschmuck der Mi’kmaw-Frauen aufgreift.

Art Gallery of Nova Scotia

Shutterstock.com/Spiroview inc.

Isoliert und Spaß dabei? Geht. Geht sogar gut. Mit einem netzunabhängigen Haus, das sich das auf grünes Design fokussierte Architekturbüro Solterre Design an der Südküste von Nova Scotia gegönnt hat. Das Geheimnis: Das Gebäude verfügt über ausreichend Fotovoltaikpaneele und ist dank energieeffizienter Beleuchtung unabhängig vom Anschluss an das regionale Netz. Zudem verwenden die Architekten ausschließlich recycelte Materialien und planen all das, was im Haus zu machen, regeln und leben ist, ganz transparent um die jeweils verfügbare Batterieleistung herum.

Ein Fall für Clever & Smart. Wie auch das Projekt Treehouse Village Ecohousing Project Cohousing in Bridgewater. Die Idee dieses Projekts lautet schlicht: In den 30 Häusern soll so viel Privatleben wie notwendig mit den Wünschen nach einer Kultur des gemeinschaftlichen Lebens in Einklang gebracht werden. Die energieeffiziente Bauweise macht aktive Heizungs- und Klimaanlagen überflüssig – das Prinzip Passivhaus steht auch hier Pate.

Nachhaltiges Ontario

Das Auge liest mit: Wenn 2024 die neue Ottawa Public Library eröffnet werden wird, fusionieren mit der Public Library und der Library and Archives Canada nicht nur zwei der wichtigsten öffentlichen Institutionen. Es entsteht hier auch ein architektonisches Meisterwerk mit weiten, lichtdurchfluteten Räumen und gemeinschaftlich nutzbaren Außenbereichen. Zudem gehören eine Kunstgalerie und die geräumige Plaza am Eingang des Gebäudes mit zum ganzheitlichen Ensemble.

Ottawa Parliament

Foto: Shutterstock.com/Facto Photo

Der atemberaubende Blick auf den Ottawa River und die Gatineau Hills sind ebenso kein Zufall wie der Umstand, dass bei der Auswahl der – natürlich umweltfreundlichen – Materialien auf die visuellen Eigenschaften der unmittelbaren Umgebung der Public Library Rücksicht genommen werden soll. Angestrebt wird, dass das Gebäude mit den benachbarten Grünflächen zu einem harmonischen Gesamtbild verschmelzen soll. Wir werden sehen – und staunen. Garantiert.

Die Bekämpfung der Obdachlosigkeit auf der einen Seite, stilbildende Architektur auf der anderen Seite – wie passt das zusammen? In Ontario kein Thema: Das aus Hamilton stammende Architekturbüro Invizij Architects and Emma Cubitt haben ein smartes Projekt ins Leben gerufen, das beide Pole fröhlich miteinander vereint. Es handelt sich um einen 50-Zimmer-Wohnblock, der als die McQuesten Lofts in Ontario bereits zu einiger Berühmtheit gekommen ist.

McQuesten Lofts Architektur

Instagram @indwell.ca

Das kastenförmige Design wirkt auf den ersten Blick wie ein Mix aus dem Kopf von Bernd dem Brot und einem Bauhaus von Walter Gropius, noch dazu mit einem Hauch Waldorfschule. Doch als Gesamtnutzwerk überzeugen die ungewöhnlichen Sozialbauten auf ganzer Linie. Bonus: Das nach den Regeln des Passivhausstandards aufgebaute Projekt überzeugt auch durch Effizienz. Eine mächtige Fotovoltaikanlage verwandelt Sonnenenergie in Gleichstrom.

Orbit by Partisans

Wie macht man aus einem braven Dorf im Handstreich eine kleine futuristische Stadt mit allen Attributen urbanen Lebens? Wer sich das überhaupt nicht vorstellen kann, sollte demnächst unbedingt einmal im ländlichen Dorf Innisfil am Westufer des Lake Simcoe vorbeischauen. Hier, rund 80 Kilometer von Toronto entfernt, wird sich nämlich schon bald vieles ändern: Das Architekturbüro Partisans aus Toronto plant, aus Innisfil eine intelligente Stadt der Zukunft zu machen. Auch der Name steht schon fest: Orbit. Was dem Dorf blüht, klingt wie aus einem Science-Fiction-Roman: ein Netzwerk aus Glasfaserkabel. Straßen und die gesamte Infrastruktur wird mit dem Internet und mit Sensoren für Bewegungsmelder verbunden. Es wird fahrerlose Autos, Drohnenhäfen und begrünte Dächer geben. Da staunt der Innisfiler, und der Besucher freut sich …

 

Fast Forward in Quebec

Was tun, wenn der Platz in den Städten knapp wird? Ganz einfach – in die Höhe bauen.

»Jede neue Situation verlangt eine neue Architektur«, wusste schon Superstar Jean Nouvel.

Der Montrealer Architekt Gilles Gauthier hat in dieser Hinsicht ganz konkrete Vorstellungen. Seine »lineare Stadt« soll nicht in die Breite, sondern in die Höhe wachsen. Das führt – so seine These – zu effizienterem öffentlichen Verkehr, höherer Lebensqualität und geringerer Umweltbelastung. Der Visionär entwarf bereits Linear-City-Gebäude als Ökosysteme, in denen auf jedem Stockwerk verschiedene Dienstleister angesiedelt sind. Und wie haben wir uns so eine »lineare Stadt« in Quebec vorzustellen? Sollen da etwa Parks, Restaurants und Bars hoch oben auf den Dächern der Stadt auf Besucher warten? Genauso.

 

Humaniti Hotel Montreal

Instagram @architecture_yorkshire

Ein gutes Beispiel dafür, wie die Materialien einer Region in zeitgenössisch-avantgardistische Architektur überführt werden können, ist auch das Humaniti Hotel Montreal von Marriott. Schon die äußere Fassade ist spektakulär, das Interior Design überzeugt mit Transparenz und fließenden Formen. Nicht das kleinste Detail wird vergessen: Das ausgeklügelte Ökosystem verwöhnt die Gäste des Humaniti Hotels mit Fitnessgeräten aus recyceltem Holz, Spa-Behandlungen mit veganen Produkten und dem h3-Restaurant, das von organischen Farmern und Winzern aus Québec beliefert wird.