Die ehrwürdige Markthalle wird von einer gusseisernen Konstruktion getragen. Da ist die neue Welt nicht viel anders als die alte – man denke nur an die Boqueria in Barcelona. Über den Restaurants im Mercado Central aber sind bunte Girlanden gespannt. Und während bei »Donde Augusto« die Tafel mit Spezialitäten aus dem nahen Pazifik bestückt wird, ziehen Mariachis von Tisch zu Tisch. Text: Ralf Johnen

Kennenlernen? Am besten beim Essen.

Ich befinde mich in Santiago, der etwas aus den Fugen geratenen Hauptstadt Chiles, und ich freue mich auf eine erste Begegnung mit der heimischen Küche. Luis serviert Ceviche, ein Gericht aus rohem Fisch oder Meeresfrüchten, die in Zitrone, Koriander und Chili eingelegt werden. Über die Urheberrechte streiten die Chilenen ebenso mit den Nachbarn aus Peru, wie im Falle des Pisco Sour. Der allgegenwärtige Aperitif aus Traubenmostdestillat, Limettensaft, Zuckersirup und Eiweiß wird hier in schmalen, randvollen Gläsern gereicht.

Später folgen faustdicke Miesmuscheln (Choritos) und kleine Krabben mit Pilpil, einer scharfen Sauce. Authentisch und ohne Schnickschnack, obwohl die Markthallen nicht ganz frei von Touristen sind. Schließlich führt jede Chile-Reise über die Sechsmillionenstadt. Als Luis den unprätentiösen Sauvignon Blanc »Don Luis« vom Weingut Cousino Macul nachgießt, erzählt er in passablem Deutsch von seiner Zeit in Hamburg, wo er eine Weile gearbeitet hat. »Tolle Stadt. In Sankt Pauli auf dem Markt gibt es auch leckeren Fisch.« Nun aber müssten wir endlich den Congrio probieren.

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Mitten im Leben des Pablo Neruda

Niemand anderes als Nationaldichter Pablo Neruda hat eine Ode an den Fisch von barracudahaften Ausmaßen geschrieben, der auf Deutsch als Seeaal bekannt ist. Tatsächlich ist das weiße, zarte Fleisch, das hier »a la plancha« (vom Grill) serviert wird, delikat. Inspiriert von dem üppigen Mahl, zieht es uns ins Barrio Bellavista.

Wieder ein Stück Vorzeigesüdamerika: flache Kolonialbauten, die bunt sind wie die Gemälde von Frida Kahlo und die hübsche Restaurants wie das »Azul Profundo« oder »La Boheme« beherbergen. Bellavista ist das Bohemien-Viertel Santiagos – und natürlich hatte auch Chiles einziger männlicher Literaturnobelpreisträger hier seine Zelte aufgeschlagen. Auf einer Anhöhe befindet sich das verschachtelte Hauptstadtdomizil des Dichters, das mittlerweile zu einem Museum umgebaut wurde.

Es ist ein Kuriositätenkabinett, das von der blinden Sammelwut des Dichters zeugt: Ob Muscheln, Gläser oder Fotos von Weggefährten – es mangelt an nichts. Herausragendes Merkmal aber ist laut Museumsführer Gonzalo: »Es gibt in diesem Haus mehr Bars als Schlafzimmer.«

Chiles Schönheitskönigin: Valparaíso

Nach meinen ersten anderthalb Tagen in Südamerika nehme ich am nächsten Tag Kurs in Richtung Westen, wo ich nach knapp zwei Stunden Fahrt die wohl schönste Stadt des Landes erreiche. Vor der Eröffnung des Panama-Kanals war Valparaíso für Seeleute nach der Umrundung von Kap Hoorn die erste Anlaufstelle im zivilisierten Teil der Pazifikküste – und bis heute hat die Stadt ihre ganz eigene Aura: Sie ist auf 45 Hügeln errichtet, auf denen sich bunte Häuser, steile Gassen und Blumen zu einem melancholischen Gesamtensemble zusammenfügen. »Wenn wir alle Treppen Valparaísos begangen haben, sind wir um die ganze Welt gereist«, hat Pablo Neruda über Valpo gesagt, wie die Einheimischen zärtlich sagen.

Olivier Chatel

Die Seefahrervergangenheit und der einst florierende Handel mit Salpeter haben Geschäftsleute aus aller Welt hierhin gebracht. Es gab ein englisches Viertel, ein deutsches, ein italienisches – am Paseo Yugoslavo lebt sogar der Name eines längst verblichenen Landes fort. Michael Arnold ist aus Thüringen nach Valparaíso ausgewandert. Während ich mit einem wackligen »Ascensor« den Cerro Alegre hinauffahre – einst gab es in Valparaíso 26 dieser Standaufzüge –, erzählt er, dass die Stadt bis zur Jahrtausendwende völlig heruntergekommen war. 2003 aber hat die UNESCO Teile der Altstadt zum Weltkulturerbe erklärt – und seitdem gibt es Hoffnung: Investoren kaufen die verfallenen Villen und versehen sie mit neuen, nicht weniger bunten Anstrichen.

Hallo Nachtleben!

In den Straßen des Cerro Alegre und des Nachbarhügels Cerro Concepción poppen kleine Ateliers und Espresso-Bars auf. Am Abend vergewissere ich mich, ob sich auch das einst berüchtigte Hafenviertel zum Positiven geändert hat. Zunächst besuche ich die Bar Cinzano, ein Etablissement, das sich seit Jahrzehnten nicht verändert hat. Die Wände sind reich geschmückt mit Seefahrtdevotionalien, an den Tischen ist es laut und rumorig. Dann fällt mein Blick auf eine kleine Bühne, auf der regungslos wie Leguane zwei steinalte Männer in Nadelstreifenanzügen sitzen. Es erklingen Tango-Klassiker, Latin-Schnulzen und Crooner-Nummern, die sich hinter Dean Martin nicht verstecken müssen.

Als ein Gast erzählt, dass die Männer über 80 Jahre alt sind und seit sechs Jahrzehnten hier auftreten, schmelze ich dahin.

Später am Abend suche ich einen Club auf, »La Piedra Feliz«. Dort spielt ein junger argentinischer Songwriter kommunistischer Gesinnung ein paar Folksongs. Im Nachbarsaal scheint sich eine gut durchgestylte Salsa-Band für die Hauptrolle in Wim Wenders’ nächster Musik-Doku zu bewerben.

Einmal treiben lassen

Für den kommenden Tag nehme ich mir nichts Konkretes vor. Über ein Geflecht aus Serpentinen und Treppen erkunde ich die Hügel. Ich sehe Villen, die in den Hang gebaut sind. Dazwischen immer wieder eine Araukarie, den chilenischen Nationalbaum, der seine Zweige voller Stolz ausstreckt.

Aber einen Hügel weiter sehe ich auch Wellblechhütten. Abenteuerlich verschachtelte Konstrukte, die nicht viel stabiler als Kartenhäuser scheinen. Sie sind der Beweis, dass Valparaíso noch lange nicht über den Berg ist. Die jungen Generationen meiden die Melancholie und den Verfall – sie leben vorzugsweise in Viña del Mar, der Nachbarstadt, die eher an Fort Lauderdale oder an Benidorm erinnert.

Ich nehme ein Taxi in die Calle Ricardo de Ferrari. Dort habe ich die Hausnummer 692 im Visier, ein fröhliches Domizil mit Art-déco-Elementen, das auf den Namen La Sebastiana getauft wurde. Hier hat Pablo Neruda gewohnt, wenn er sich in Valpo aufhielt. Das Haus liegt hoch über dem Pazifik. Am Horizont: Schiffe, die den Hafen in alle Richtungen verlassen.

Hoch zu Roß durch Patagonien

Obwohl mich diese Stadt in ihren Bann gezogen hat, gebe ich meiner Reise eine Wendung. Ich fahre rund 900 Kilometer gen Süden ins Outdoor-Zentrum Pucón. Dort treffe ich Mathias Boss, der vor knapp 20 Jahren mit seiner Familie nach Chile ausgewandert ist. Damals gab es in Antilco noch keinen Strom. Das, was einmal seine Ranch werden würde, war nur über eine wacklige Holzbrücke erreichbar. Und bis heute muss er immer darauf gefasst sein, dass ihm die Elemente zu schaffen machen. Der gelernte Automechaniker nämlich wohnt zu Füßen des Vulkans Villarrica. Dennoch sitzt der 54-Jährige heute fest im Sattel. Er beherbergt rund 20 Pferde der einheimischen Rasse Criollos Chilenos, mit denen er Expeditionen durch Nordpatagonien anbietet.

Es ist ein sonniger Morgen Mitte Oktober, als Matthias mir verspricht, dass ich während unserer halbtägigen Tour drei Vulkane zu sehen bekommen werde. Als wir aufbrechen, reiten wir zunächst über die Hauptstraße, was in der geografischen Mitte Chiles einem nahezu autofreien Schotterweg gleichkommt. Während am Wegesrand heimische Boldo-Sträucher und importierte Kirschbäume ein opulentes Blütenmeer bilden, blicken wir auf die Ausläufer der Voranden.

Die Aussicht auf ein einfaches Leben, sagt Matthias, hat ihn dazu bewogen, hier einen Neustart zu wagen. »Die Wälder da oben sind unberührt. Hektik kennen wir nicht.« Nach einer Weile biegen wir um eine Ecke. »Da vorne ist er«, sagt Boss. Er meint den schneebedeckten Villarrica, der in 2.840 Metern Höhe bedächtig seine Rauchwölkchen in den azurblauen Himmel ausstößt. Nun ist es Zeit für einen kleinen Galopp. Seine Pferde nämlich sind nicht darauf getrimmt, Touristen apathisch durch die Landschaft zu tragen. »Nein, die haben Charakter.«

Ralf Johnen

Später, beim Barbecue im heimischen Garten, kommen die Spezialitäten der Region auf den Tisch: Steak und Chorizo, dazu Pebre, eine scharfe Sauce mit Tomaten, Zwiebeln und Koriander. »Was ihr heute gesehen habt«, sagt Matthias, »war noch gar nichts.« Erst bei einem einwöchigen Ritt durch die menschenleeren Anden würden sich das Land und die Einsamkeit so richtig erschließen.

Vulkanbesteigung

Am nächsten Tag bin ich schon weit vor Sonnenaufgang auf den Beinen. Mit einer kleinen Gruppe möchte ich den Villarrica besteigen, wofür es geeigneter Ausrüstung bedarf. Mit Rucksack und Eispickel stehen wir gegen 8 Uhr an der Talstation eines kleinen Skigebiets. Die Saison ist vorbei. Weil es abermals ein sonniger Tag zu werden scheint, geben die drei Bergführer ihr Okay für den Aufstieg. Wie die anderen zwölf Expeditionsteilnehmer weiß auch Gabriella aus Washington nicht so recht, ob ihr heute ein kleines oder vielleicht doch eher ein größeres Abenteuer bevorsteht. 1.650 Höhenmeter liegen vor uns.

Und weil der Frühling noch jung ist, führt lediglich die erste halbe Stunde durch Geröllfelder. Danach geht es durch Schnee.

Die erfahrenen Guides geben einen bewährten Rhythmus vor: 50 Minuten im Gänsemarsch über Trampelpfade klettern, anschließend zehn Minuten Pause zum Essen, Trinken und Auftragen von Sonnenmilch. So ist der Berg binnen fünf bis sechs Stunden zu bewältigen – vorausgesetzt, dass der Vulkan sein Temperament zügelt. Für Notfälle befindet sich im Gepäck eine Gasmaske. Und dann ist die sofortige Umkehr angesagt. Die ersten drei Stunden geht der Plan auch für Gabriella mühelos auf. In der intensiver werdenden Sonne aber wird der Schnee immer sulziger.

Der Ausblick auf die Anden muss nun häufiger als Entschädigung für den kräftezehrenden Aufstieg herhalten. Auf 2.800 Metern Höhe – auch die Amerikanerin ist längst erschöpft – ziehen plötzlich Wolken auf. Binnen Minuten schlägt das Wetter um. Die Guides beraten kurz, ob wir die Expedition im Nebel fortsetzen können. Sie sprechen von einer »außergewöhnlichen Situation«, doch weil es nur noch ein paar Minuten bis zum Gipfel sind, sehen sie keine Gefahr. Als es oben noch einmal aufklart, können wir sogar kurz in den Vulkankessel blicken. Im eisigen Wind ziehen wir rasch unsere Schneeanzüge an, um uns für die originelle Art des Abstiegs zu wappnen:

In vorgefertigten Rinnen rutschen wir auf einem Plastikteller den Berg hinunter – mit dem Eispickel als einzige Bremse.

Gabriella ruft durch den Nebel, dass es sich wohl eher um ein größeres Abenteuer handelt.

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Am Ende der Welt

Als Belohnung für die Strapazen gönne ich mir noch ein paar Tage im Hotel Antumalal. Erneut wähne ich mich in einer anderen Zeit, denn das von einem Schüler des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright erbaute Haus ist ebenso großartig wie unwahrscheinlich. Vom Bett aus blicke ich ungehindert auf den Villarricca-See. Das original aus den 50er-Jahren stammende Mobiliar sieht aus, als sei es der US-Fernsehserie »Mad Men« entliehen.

An den Wänden des Foyers hängen Porträts von Hollywood-Ikone James Stewart und Königin Elisabeth II. Beide waren zur Sommerfrische hier. Nach der Vulkanbesteigung scheint mir eine Umrundung des Villarricca angemessen. Die Fahrt allerdings führt über Schotterpisten – nur wenige Straßen in Chile sind asphaltiert. Gelegentlich passiere ich schwarze Felder. Versteinerte Lava, die der Vulkan willkürlich in der Landschaft verteilt hat. Seine Botschaft: Hier wird an der Fertigstellung der Erde noch gearbeitet. Nach etwa zwei Stunden erreiche ich ein weiteres Produkt dieses anhaltenden Gestaltungsprozesses: die Termas Geometricas. Eine Kaskade von 17 bis zu 40 Grad heißen Quellen, die sich in einem engen, überwucherten Tal befindet. Ich scheine endgültig am anderen Ende der Welt angekommen.

 

Mehr Infos bekommt ihr in unserem Chile-Reise-Guide.