Über die Jagd auf Pokémons kann er nur lachen. Seit mehr als 25 Jahren ist Steve Feltham am Loch Ness auf der Suche nach einem echten Monster. Und hat dabei sein Glück gefunden. Text: Pia Hoffmann

Vor einem umgebauten Wohnmobil am Ufer von Loch Ness steht ein Fernglas, das Tag und Nacht auf den See gerichtet ist. Über der Tür prangt ein großes Schild mit der Aufschrift »NessieHunter.com«. Im Inneren des Wagens, einem ehemaligen Büchereimobil, schnurrt eine Katze zusammengerollt vor einem kleinen Ofen; daneben steht ein altes Klavier.

Suche nach Nessie: Haus am Ufer von Loch Ness

Pia Hoffmann

Im ehemaligen Führerhaus sitzt Steve Feltham in Jeans, kariertem Hemd und Wollpullunder an seiner Werkbank und formt Monsterfiguren aus Knetmasse. Dabei starrt er fast unablässig aus dem Fenster aufs Wasser.

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert harrt der 54-Jährige nun schon am Ufer des schottischen Gewässers aus, um dem Mysterium des Monsters von Loch Ness auf den Grund zu gehen. Früher fuhr er mit seinem Nessie-Mobil um den See, immer dorthin, wo jemand glaubte, etwas Merkwürdiges gesehen zu haben. Doch seit der alte Camper nicht mehr fahrtauglich ist, ist er am Strand des Dores Inn sesshaft geworden. Die Eigentümer des Gasthauses lassen ihn dort gewähren, denn der bunte Wohnwagen und sein skurriler Eigentümer locken Touristen an, die gerne im Pub zu Mittag essen oder etwas trinken.

Seit 1970 an Nessie interessiert

Begonnen hat Steve Felthams Faszination mit Nessie schon 1970, als er mit seinen Eltern Urlaub am Loch Ness machte. »Damals gab es das Loch Ness Investigationsbüro«, erinnert er sich. »Das waren erwachsene Männer, die mit großen Kameras und U-Booten Jagd auf das Ungeheuer machten. Als 7-Jährigen hat mich das so sehr beeindruckt, dass ich das auch machen wollte.« 1991 hat er sich seinen Traum erfüllt. Er kündigte seinen Job im südenglischen Dorset, verließ seine Freundin und wurde zum einzigen Vollzeit-Monsterjäger in den schottischen Highlands.

In den 26 Jahren, die er den größten See Großbritanniens nun schon beobachtet, hat Steve Feltham erst einmal etwas Ungewöhnliches gesehen. »Vor vielen Jahren schoss gegen 11 Uhr morgens etwas durch die Bucht von Fort Augustus«, erzählt er. »Wie ein Torpedo durchpflügte es die hohen Wellen. Ich konnte sehen wie das Wasser von etwas abprallte und hoch in die Luft spritzte. Im See gibt es aber keine uns bekannten Fische, die so groß und schnell sind.« Ähnlich glaubhafte Beobachtungen wurden am Loch Ness früher rund zehnmal im Jahr registriert, heute nur noch ein bis zweimal.

Steve Feltham in seiner Bude am Ufer von Loch Ness

Pia Hoffmann

Von der niedrigen Erfolgsquote lässt sich der Nessie-Jäger nicht entmutigen. Wie viele Einheimische ist er fest davon überzeugt, dass der See ein Geheimnis birgt. Dass es sich dabei um ein grünes Monster mit langem Hals und gezacktem Rücken handelt, glaubt er allerdings nicht. »Manche gehen von einem Plesiosaurier aus und denken, Loch Ness sei ein Zeitfenster in die Kreidezeit«, berichtet Steve Feltham und schüttelt den Kopf. »Es gibt sogar Leute, die glauben, der See sei das Tor, durch das Raumschiffe ins Erdinnere gelangen.«

Nur eine Kolonie Europäischer Welse, die fünf Meter lang werden?

Trotz seiner außergewöhnlichen Lebensweise ist der nette Mann im Wohnmobil kein Spinner, der einer verrückten Theorie nachjagt, sondern er betrachtet das Phänomen erstaunlich realistisch. „Die meisten Leute glauben, Nessie sei ein einziges großes Tier. Wahrscheinlicher aber ist, dass es sich um eine Kolonie Europäischer Welse handelt“, erklärt er. »Sie werden bis zu fünf Meter lang und hundert Jahre alt. Im viktorianischen Zeitalter wurden sie in Seen ausgesetzt, um diese für Angler attraktiver zu machen.« Falls damals wirklich Welse im Loch Ness ausgesetzt wurden, wären diese in den 30er Jahren, als es die meisten Nessie-Beobachtungen gab, ausgewachsen gewesen. Hätten sie sich nicht fortgepflanzt, würden sie jetzt langsam aussterben, und tatsächlich ist die Zahl der Sichtungen in den letzten Jahren zurückgegangen.

Kein Fotobeweis bisher für Existenz von Nessie

Vielleicht liegt das aber auch daran, dass jede Beobachtung heute wissenschaftlich genau unter die Lupe genommen wird. Adrian Shine, ein exzentrisch aussehender Naturforscher mit langem grauem Rauschebart, leitet seit 40 Jahren die Untersuchungen des Loch Ness Projects. »Es gibt nur zwei Arten von Nessie-Fotos«, urteilt er sachlich. »Die Guten sind gefälscht; die Schlechten sind nichtssagend. Bisher konnte ich für jede Sichtung eine logische Erklärung finden.«

Adrian Shine vom Loch Ness Centre

Pia Hoffmann

Mal war es ein Stück Treibholz, mal eine Spiegelung oder eine verzögerte Bugwelle. »Ich glaube nicht, dass Loch Ness ein Jurassic Park ist«, lautet seine nüchterne Erkenntnis. »Wissenschaftlich betrachtet gäbe es im See gar nicht genug Nahrung für ein Monster. Aber es ist durchaus möglich, dass große Tiere durch den Fluss Ness in den See und wieder heraus schwimmen. Ab und zu kommen Seehunde nach Loch Ness, und so könnte auch einmal ein Stör hereingekommen sein.«

Suche nach der Wahrheit

Im Loch Ness Centre & Exhibition in Drumnadrochit hat Adrian Shine eine umfangreiche Ausstellung zusammengestellt, die anhand von Fotos, Filmen, Tonaufnahmen und Exponaten veranschaulicht, welche Erkenntnisse die Nessie-Forscher bisher gewonnen haben. Gegen den Vorwurf, er wolle damit den Mythos Nessie zerstören, wehrt er sich heftig. Vielmehr will er den Zeugenaussagen Glaubwürdigkeit verleihen, indem er sie erklärt.

Loch Ness Centre Exhibition

Pia Hoffmann

So unterschiedlich der Naturforscher und der Nessie-Jäger auch sind, beide Männer haben ihr Leben einem fiktiven Ungeheuer gewidmet und respektieren einander dafür. »Ich war selbst einmal Monsterjäger wie Steve Feltham«, erinnert sich Adrian Shine. »Steve ist ein ehrlicher Kerl, der noch nie etwas erfunden oder ein Foto gefälscht hat. Bei ihm geht es rein um den Lebensstil. Er hat einfach Freude daran, am Wasser zu sitzen und auf das Monster zu warten.«

Warten auf ein Monster, das niemals auftauchen wird. Und wenn doch? »Dann würde ich mir die Kamera schnappen, hinauslaufen und ein Foto machen«, antwortet Steve Feltham wie aus der Pistole geschossen, denn für den Ernstfall hat er einen genauen Plan. »Danach würde ich mir ein schickes Hotelzimmer in Inverness nehmen und von da aus Journalisten in aller Welt anrufen, um mein Foto meistbietend zu versteigern.«

Geld aus dem Verkauf bunter Nessie-Figuren verdienen

Bis es so weit ist, verdient der Monsterjäger seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf bunter Nessie-Figuren aus Modelliermasse, die er formt während er wartet. Manche Souvenirläden widmen seinen Kunstwerken ein eigenes Regal. Die kleinen Nessies sehen dem blauen Pokémon Lapras verblüffend ähnlich, doch mit der virtuellen Monsterjagd hat der echte Monsterjäger nichts am Hut. Verständnislos beobachtet er die Pokémon-Spieler, die am See nach Fantasiemonstern suchen und dabei das eigentliche Monster vergessen. »Sie starren nur auf ihre Handys, fangen ihre Pokémons und fahren weiter. Sie sehen gar nicht, dass hier einer der schönsten Aussichtspunkte in ganz Schottland ist.«

Steve Feltham ist sich der Naturschönheiten seiner Wahlheimat wohl bewusst und kennt daher auch keine Langeweile. »Es kommt selten vor, dass nichts passiert«, sagt er. »Die Natur hat immer etwas zu bieten, und das Wetter in den schottischen Highlands ändert sich ständig.« Auch Einsamkeit kommt selten auf, denn täglich kommen Touristen aus aller Welt an den Strand von Dores, um mit dem Nessie-Jäger zu sprechen, Fotos zu machen oder ihm eine seiner Figuren abzukaufen. Die Ausflugsbusse legen hier Zwischenstopps ein, und mit den meisten Busfahrern ist Steve Feltham befreundet.

Ausflugsschiff an Loch Ness

Pia Hoffmann

»Viele, die hierherkommen, denken zunächst, ich sei verrückt«, weiß der Nessie-Jäger. »Doch dann sehen sie den Spaß, die Abenteuer und vor allem die Freiheit, die ich hier habe. Dann merken sie plötzlich, dass es gar nicht so toll ist, sich den ganzen Tag zu abzurackern, nur um ein paar Wochen im Jahr Spaß im Urlaub zu haben. Ich tue 365 Tage im Jahr das, was mir Spaß macht, und die Befriedigung, die ich dabei empfinde, grenzt an Euphorie.« Steve Feltham strahlt die Freude, Zufriedenheit und Gelassenheit eines Mannes aus, der seinen Traum lebt. Selbst bei der Ausschau nach Nessie setzt er sich nicht unter Druck. »Ich gehe in Ruhe einkaufen, schlafe aus und fahre sogar in Urlaub. Wenn ich meine Monster-Wache unterbreche, dann schalte ich komplett ab. Ich würde verrückt werden, wenn ich jedes Mal Angst hätte, Nessie zu verpassen

Am Abend steht er am Ufer und saugt die Energie des Sees auf

An schönen Tagen sitzt der 54-Jährige vor seinem Wagen in der Sonne oder fährt mit dem Boot hinaus auf den See. Ärger mit dem Chef, Termindruck, Strom- oder Wasserrechnungen kennt er nicht. Der Dores Inn hat draußen einen Wasserhahn, den er zum Kochen benutzen darf, seine Dusche besteht aus zwei Eimern Wasser aus dem Loch, und seine Autobatterie lädt er mit Sonnenenergie. Im Winter befeuert er seinen Ofen mit Treibholz aus dem See oder sitzt am Lagerfeuer und beobachtet die Nordlichter. »Wenn abends alle weg sind und ich das Loch für mich allein habe, stehe ich oft am Ufer und sauge die Energie in mich auf, die dieser mystische Ort ausstrahlt«, verrät er. »Danach lege ich mich ins Bett und schaue durchs Dachfenster meines Wohnwagens in den klaren Sternenhimmel.«

Steve Feltham am Ufer von Loch Ness

Pia Hoffmann

Steve Feltham hat am Loch Ness zu sich selbst gefunden und teilt dieses Glück gern mit anderen. »Ich würde nicht jedem raten, sich ein Wohnmobil zu kaufen und sich mit mir an den See zu setzen«, sagt er. »Aber ich möchte den Menschen zeigen, dass es möglich ist, ohne Kompromisse zu leben. Wenn jemand einen Traum hat, ganz egal wie verrückt er auch sein mag, bin ich der lebende Beweis dafür, dass man ein tolles Leben haben kann, wenn man seinem Traum folgt.« Das Mysterium um das Monster hat der Nessie-Jäger zwar noch nicht entschlüsselt, aber er hat dabei ein viel wichtigeres Rätsel gelöst: das Geheimnis des Glücklichseins.