Mit dem Dampfer in den Urwald: Im peruanischen Bundesstaat Loreto bringt ein britischer Wissenschaftler seinen Gästen die atemberaubende Schönheit der Natur nah. Anstrengend, aber aufregend. 

Er stellt sich jetzt zum letzten Mal aufs Deck, hat seinen Safari-Schlapphut aufgesetzt, eine dicke Zigarre angezündet und das schöne, alte Grammofon auf einen Klapptisch gestellt. Richard Bodmer, Wissenschaftler und Chef des Expeditionsschiffs Ayapua, lächelt und scherzt noch einmal um die Wette. Abschiedsfotos werden geknipst. Die Mittagssonne brennt. Auf dem Fluss zieht ein Kanu vorbei, die Insassen blicken neugierig herüber. Die übrigen Passagiere und Bordmitglieder stehen schweigend an der Reling. Ihre Gedanken schweifen zurück. Sie lassen die vergangenen Tage Revue passieren. Welche Erinnerungen bleiben von ihrem Ausflug in das Nationalreservat Pacaya Samiria, hier im peruanischen Dschungel?

Expeditionsboot Ayapua

Frank Störbrauck

Los geht die Reise durch Pacaya Samiria

Acht Tage zuvor: Dr. Richard Bodmer ist einige Minuten zu früh. Die Kopien liegen sorgsam auf dem Tisch, auf dem Projektor eine Folie. Sie zeigt den südamerikanischen Kontinent vor Tausenden von Jahren und dient einem kleinen Einführungsvortrag über die Geschichte des peruanischen Urwalds, die Gepflogenheiten auf dem Schiff, den Mythos Amazonas. Dr. Bodmer ist Gastgeber für die Teilnehmer dieses Abenteuers in der Wildnis des peruanischen Amazonasbeckens an Bord der Ayapua. Das ist ein historischer Dampfer, 1906 in Hamburg erbaut, der einst Kautschuk durch die Region transportierte.

Die Ayapua hat vor zwei Stunden Nauta verlassen; ein kleines Städtchen, das rund 80 Kilometer südwestlich von der Amazonas-Metropole Iquitos liegt. Eine Anreise nach Iquitos selbst ist schon eine schweißtreibende Angelegenheit. Die 400.000 Einwohner sind nämlich ausschließlich per Flugzeug oder Boot zu erreichen. Auf dem Landweg schafft man es nicht in die Großstadt. Nauta, per Landstraße von Iquitos zugänglich, ist der letzte Außenposten der Zivilisation. Wenige Kilometer weiter fluss­aufwärts beginnt nämlich der Urwald. Dann ist man mitten im Pacaya Samiria.

Indigene auf Boot in Peru

Nowaczyk/Shutterstock.com

Für Richard Bodmer ergibt es durchaus Sinn, seine Basis in dem kleinen Städtchen zu haben. Ab Nauta ist er mit seinem Schiff auf dem Rio Marañón flussaufwärts an einem Tag im nationalen Naturschutzgebiet Pacaya Samiria. Das Reservat ist Perus größter Nationalpark, 20.800 Quadratkilometer groß. Sein Ziel: das natürliche Ökosystem zu erhalten, die Forschung der Fauna und Flora voranzutreiben.

Die Expeditionsreisen sind keine kommerziellen Tourismusausflüge

Und genau das ist Richard Bodmers Aufgabe. Touristen, Bodmer meidet den Begriff und spricht stattdessen meist von »Volunteers« (Freiwilligen), an Bord sind eher eine Ausnahme. Der 57-Jährige arbeitet in erster Linie als Wissenschaftler im Auftrag renommierter Umweltschutzorganisationen wie der Wildlife Conservation Society (WCS) und des World Wildlife Fund (WWF). Während dieser Expeditionen hat er Studenten aus Peru, den USA und Europa an Bord. Mehrere Wochen lang halten sie Ausschau nach Silberreihern, Hoatzins, Kaimanen, Delfinen sowie vielen anderen Tierarten, die es in unseren Breitengraden höchstens im Zoo zu bestaunen gibt.

Touristen im Kanu im Pacaya Samiria

Nowaczyk/Shutterstock.com

Bodmers Expeditionsreisen auf der Ayapua sind alles andere als kommerzielle Tourismusausflüge – dessen sollte sich jeder bewusst sein, der mit ihm auf die angebotenen acht- oder fünfzehntägigen Abenteuerreisen geht. Die Verpflegung an Bord ist peruanische Hausmannskost, die Zwei-Personen-Kajüten sind spartanisch eingerichtet, vor allem aber das Bad gilt für den gehobenen Anspruch als Herausforderung. Fernsehen oder Telefon gibt es natürlich nicht. Aber nach einer gewissen Eingewöhnungsphase wird das Schiff zur neuen Heimat.

Magische Momente mit rosa Delfinen

Nach rund 16 Stunden Fahrt erreicht die Ayapua in den frühen Morgenstunden ihr Ziel: das Eingangstor zum Naturschutzreservat Pacaya Samiria. Der Dampfer stampft nun auf dem Rio Samiria. Der Fluss ist das Herz des Parks, er fließt mitten durch das Reservat. Tief hinein in den Park darf die Ayapua, die im Jahr 2005 generalüberholt wurde, aber nicht. »Die Sandbänke«, murmelt Richard Bodmer. Er sieht müde aus, er hat die ganze Nacht gemeinsam mit dem Steuermann navigiert – mit bloßem Auge. Im September ist das Wasser des Samirias nicht tief, eine Weiterfahrt wäre zu riskant.

Pinker Delfin im Pacaya Samiria

Susan Montgomery

Weiter geht es mit einem kleinen Beiboot. Ausflugszeit! Außer den Gästen der Ayapua, die sich am Rande des Boots erwartungsvoll mit ihren Kameras positioniert haben, ist Bodmers langjähriger wissenschaftlicher Assistent, Pablo Puertos, mit von der Partie. Puertos, 46, studierte Biologie in Iquitos und »Wildlife Ecology« in Florida, leitete anschließend jahrelang für das WWF diverse Projekte in der Region und kennt das Amazonasbecken aus dem Effeff. Und, so ganz nebenbei, ist er eine personifizierte Enzyklopädie des Urwalds.

Faszination der Monotomie im Pacaya Samiria

Es dauert nicht lange, bis sich die Attraktion des Tages blicken lässt: Rechts und links des Bootes, man kann gar nicht so schnell um sich schauen, zeigen sich Schulen von rosafarbenen Delfinen. Ein echtes Highlight, denn man findet sie weltweit nur im Amazonasgebiet. Sie scheinen einen Heidenspaß daran zu haben, das Boot zu begleiten. Allein der Anblick dieses Delfins lässt einen zum staunenden Grünschnabel mutieren.

Als der Motor für eine Weile abgeschaltet wird und das Boot gemächlich über den Samiria gleitet, ist er da: dieser magische Moment. Klar, ein Faible für die Flora und Fauna des Amazonas verbindet alle an Bord. Aber jetzt ist der Moment, in dem einen die Faszination der Monotonie überkommt. Die Weite des Himmels, das Grün der riesigen Bäume und sonst nichts als die Stille und der scheinbar endlos fließende Fluss…Es herrscht Schweigen. Dabei ist es nicht nur der tiefe Respekt vor der Natur und der Wunsch, durch die Stille vielleicht ein Totenkopfäffchen, einen Amazonasfischer oder einen Macaw-Papagai zu erblicken. Viele Passagiere, ja selbst Pablo Puertos, der schon Dutzende Male hier umhergetuckert ist, spüren die Magie des Dschungels.

Dschungelkino mit Urwaldstreifen »Fitzcarraldo«

Richard Bodmer empfängt die Gäste nach ihrer Rückkehr mit einem »Na, wie fandet ihr die Anakondas und die Kaimane?« Na ja, von wegen. Mit Ausnahme der rosafarbenen Delfine und exotischen Vögel wie der Olivenscharbe und dem Rotbrustfischer war die optische Ausbeute doch eher bescheiden. Indes: Dass es kein leichtes Unterfangen wird, allerlei tierische Exoten präsentiert zu bekommen, ahnt, wer einen Blick ins das Buch »Wunderland Peru« des Schweizer Geologen Arnold Heim wirft. Der stellte schon 1948 nach einer Expedition durch den Urwald ernüchtert fest: »So sind beispielsweise Begegnungen mit Schlangen und gefährlichem Wild selten vorkommende Ereignisse.«

Brauner Wollaffe an Baum im Urwald in Peru

Danita Delimont/Shutterstock.com

Nach dem Essen kommt der Kinoabend. »Fitzcarraldo«. »Das passt ja wie die Faust aufs Auge«, flüstert ein Mitreisender. In der Tat: Der Urwaldstreifen aus dem Jahre 1982 von Regisseur Werner Herzog handelt von dem Abenteur des exzentrischen Opernliebhabers Brian Sweeney Fitzgerald (gespielt von Klaus Kinski), der in Iquitos ein Opernhaus errichten will. Um den Bau finanzieren zu können, kauft der naive Fantast einen alten Flussdampfer, mit dem er Kautschukhandel betreiben will. Der Film zeigt grandiose Landschaftsaufnahmen des Amazonasgebiets. Es fällt auf, wie sehr sich Bodmer an den Spielfilmszenen ergötzt. Besonders breit ist sein Lächeln während der Szene, in der Kinski mit seinem – übrigens der Ayapua frappierend ähnlich sehenden – Dampfer Molly durch den Urwald tuckert, dabei auf dem Deck steht und mit seinem Grammofon samt Schelllackplatte voller Pathos Caruso in den Urwald schmettert.

Die Natur schreibt im Pacaya Samiria ihr eigenes Drehbuch

Auch am vorletzten Tag geht es mit dem Beiboot tiefer hinein in den Urwald. An einer flachen Stelle zieht Rene, langjähriger Mitarbeiter Bodmers und meist am Bug Steuermann der Truppe, das Boot ans Ufer. Die »Volunteers« gehen über sandigen Boden und durchs Gebüsch, ein Weg ist angelegt.

Begehrlichkeiten werden bei allen geweckt, als plötzlich von Weitem Affen zu hören sind. Oder besser gesagt, das, was Rene als Affengeräusche identifiziert. Gespenstisch hört es sich an. So als würde ein stürmischer Wind durch eine enge Schlucht hindurch pfeifen. Doch je näher sich die aufgewühlte Truppe dem Geräusch nähert und je lauter sie vor Vorfreude herumgluckst, desto leiser wird es – bis es abrupt ganz verstummt. »Warum sind die Affen plötzlich verschwunden?« »Weil die Tiere schüchtern und schreckhaft sind. Man muss leise sein. Sehr, sehr leise.« Nach dem Landausflug inklusive mehr oder minder erfolgreicher Abwehr biestiger Mücken­schwärme steigen die verhinderten Affenbestauner wieder ernüchtert ins Boot.

Indigenes Mädchen auf Floß im Pacaya Samiria

Frank Störbrauck

Am letzten Tag geht es in eines der Dörfer im Pacaya Samiria

Bevor am letzten Tag die Rückfahrt nach Nauta ansteht, führt Pablo Puertos die Reisenden zu den Communitys, den Dörfern der Ureinwohner. Sie tragen Namen wie Nuevo Arica, Bolivar und San Martin de Tipishca. Kleine Communitys haben circa 50, die größeren etwa 700 bis 800 Bewohner. Der Besuch der europäischen Gäste löst in den Dörfern keine besondere Neugier aus. Allenfalls verstohlene Blicke aus den Kulleraugen der Kinder.

Die Begegnung am späten Nachmittag aber ist nicht von langer Dauer: Mutter Natur nimmt wieder das Zepter in die Hand und sendet in der Stunde der Dämmerung ein Signal des Aufbruchs. Wie aus dem Nichts fliegt ein Schwarm von kreischenden Vögeln der Abendsonne entgegen, als hätten sie dringliche Geschäfte, die die Reisenden nicht kennen …

Typisches Einheimischendorf im Pacaya Samiria

Christian Declercq/Shutterstock.com

Als die Ayapua Nauta erreicht, hat sich Richard Bodmer längst auf dem Deck eingerichtet. Er gibt sich alle Mühe, noch einmal an Fitzcarraldo zu erinnern. Fast wie nach dem Drehbuch spielt er diesen letzten Akt. Er würde sicherlich eine Menge dafür geben, stünde jetzt – wie in der Schlussszene im Film – am Ufer eine Operntruppe, die Bellinis »Puritani« aufführte. Die Reisenden aber lauschen keinen Klängen einer Oper. Sie sind mit ihren Gedanken im Urwald und lassen die Impressionen der vergangenen Tage noch einmal vor dieser Kulisse auf sich wirken. Bodmer raucht zum letzten Mal eine große Zigarre – und als er die Reisenden der Reihe nach beobachtet, lächelt er, ganz entspannt. Der Zauber des Dschungels hat gewirkt.

Tipps zur Anreise und zum Veranstalter

Infos. Peruanisches Fremdenverkehrsamt bei der Botschaft der Republik Peru, Mohrenstrasse 42, 10117 Berlin, Tel.: 030 20641042.

Anreise. Mit der Airline Iberia von Frankfurt a. M. und München nach Madrid. Ab dort mit der Fluggesellschaft LATAM nach Lima und dann weiter nach Iquitos. Die Flugdauer von Madrid nach Lima beträgt rund zwölf Stunden, von Lima nach Iquitos sind es rund 90 Minuten.

Veranstalter. Earthwatch bietet Laien die Möglichkeit, an den wissenschaftlichen Expeditionen von Dr. Richard Bodmer und seinem Team im Nationalreservat Pacaya Samiria teilzunehmen. Umgerechnet ab rund 2.900 Euro kosten die elftägigen Trips – für die Anreise muss man extra bezahlen. Infos unter Tel.: +44 (0) 1865 318831.

Buchtipp. Auf den Spuren Fitzcarraldos: Regisseur Werner Herzog bricht auf, um im südamerikanischen Dschungel den Film »Fitzcarraldo« zu drehen, die Geschichte eines Mannes, eines Traumes und seiner abenteuerlichen Verwirklichung. Auch die Dreharbeiten geraten zu einem Abenteuer: Werner Herzogs (Tage-)Buch »Die Eroberung des Nutzlosen« ist das Protokoll einer existenziellen Erfahrung im peruanischen Dschungel. Hanser Verlag, 334 Seiten, 10,95 €

Dieser Text erschien im Sommer 2018 bei reisen EXCLUSIV und wurde im Juni 2024 aktualisiert.