Greenwichpromenade, Tegeler Fließ, Borsigturm und Weiße Stadt: Der Berliner Bezirk Reinickendorf präsentiert eine Seite von Berlin, die man so gar nicht erwartet. Ein Besuch im Berliner Nordwesten.

Knapp zwei Kilometer vor meinem Ziel frage ich mich, ob ich eigentlich noch in Berlin bin. Ich sitze in der U-Bahn-Linie 6, vom Zentrum Berlins auf dem Weg nach Alt-Tegel im Bezirk Reinickendorf. Das ist hoch oben im Berliner Norden. Richtung Flughafen Tegel. An mir ziehen U-Bahn-Stationsnamen vorbei, von denen ich zuvor noch nie etwas gehört habe: Scharnweberstraße, Otisstraße oder Holzhauser Straße. Die Bahn wird immer leerer. Gleich bin ich da.

Ich scheine der einzige Tourist zu sein. Während am Morgen an meinem Startpunkt Zoologischer Garten Dutzende, ach was, Hunderte Touristen mit Rucksäcken auf den Rücken und Reiseführern in der Hand durch die U-Bahn-Gänge irrlichterten, sind hier nur Einheimische unterwegs.

Fast 30 Minuten von Charlottenburg entfernt

Dann endlich bin ich da. 24 Minuten dauerte die Fahrt. Als ich die U-Bahn-Station Alt-Tegel verlasse, und die Straße »Alt-Tegel« betrete, traue ich meinen Augen nicht. Das soll nach Berlin sein? Geradezu dörflich präsentiert sich Berlin hier. Die Straße »Alt-Tegel« ist eine kleine ziemlich kleinstädtisch anmutende Fußgängerzone, rechts und links ein Restaurant nach dem anderen. Vom Hipster-Flair rund um die Warschauer Straße ist die Gegend hier meilenweit entfernt. Dafür sieht es hier so aus wie Deutschland zu Helmut-Kohl-Zeiten. Etwas verloren blicke ich umher. Was mag es wohl hier zu sehen geben?

Gleich um die Ecke steht die gute Sightseeing-Fee in Gestalt von Kiez-Kennerin Kerstin Freese-Roennbeck.

Fremdenführerin Kerstin Freese-Roennbeck

Frank Störbrauck

Sie wird mich heute Nachmittag zwar nun nicht durch den ganzen Bezirk Reinickendorf (der wäre nun wirklich zu groß), aber immerhin durch Alt-Tegel führen. Nach einer kurzen Begrüßung geht es auch schon los. Wir flanieren am Restaurant »Hax’nhaus« vorbei, das so wirkt, als habe es sich aus einem bayerischen Dorf in der Hauptstadt verirrt. An einem Tisch wird gerade ein Eisbein mit Sauerkraut und Klößen serviert. Erstaunt über so viel Bürgerlichkeit starre ich nur noch Richtung Tisch. »Ja, ist schon einiges anders hier als im Berliner Zentrum, nicht wahr?”, sagt Frau Freese-Roennbeck, schmunzelt und schreitet voran.

Vorzeigemeile in Reinickendorf: die Greenwichpromenade

Es geht runter zum Hafen, zur Greenwichpromenade. Das ist die Vorzeigepromenade am Tegeler See. Der See hat eine Fläche von 4,6 Quadratkilometern, ist vier Kilometer lang und hat sieben Inseln – und ist damit der zweitgrößte See Berlins. Die Promenade wirkt riesig, breit und lang ist sie – und sehr gepflegt. Einige Spaziergänger sind auf der Promenade unterwegs, auf dem Wasser warten die Schiffsdampfer auf Ausflugsgäste.

Greenwichpromenade Berlin-Reinickendorf

Frank Störbrauck

Die Reederei Stern- und Kreisschifffahrt bietet von hier aus Rundfahrten an. Die Havel verbindet Reinickendorf auf dem Wasserweg mit Wannsee, Potsdam und dem Brandenburger Umland. Und so verheißen die Hinweistafeln Fahrten nach Oranienburg, in die Berliner Innenstadt oder über Spandau und Wannsee zur Pfaueninsel. Wer Zeit mitbringt, kann auch zum Lehnitzsee oder in die »Blütenstadt« Werder tuckern. Auf einer Werbetafel werden Brunch-, Party- und Krimi-Abend-Schiffstouren angeboten. »Vor allem am Wochenenden ist es hier voll mit Tagesausflüglern; in erster Linie Berliner, die mal raus ins Grüne wollen«, sagt Frau Freese-Roennbeck.

Wir laufen die Promenade entlang, Richtung Norden, auf der Suche nach schönen Fotomotiven. Stockenten und Kanadische Wildgänse watschen vorbei. Eine Dame in einer Holzbude bietet Ruder- und Tretboote zum Verleih an. Knallbunt liegen sie da in einer Reihe. Wunderbar. Ich strahle übers ganze Gesicht. Das ist doch ein tolles Fotomotiv.

Treetboote am Tegler See in Alt-Tegel

Frank Störbrauck

Ob ich nicht auch Lust auf eine Runde Bootsfahren hätte, fragt mich die Dame aus der Bude. Lust schon, erwidere ich, aber Frau Freese-Roennbecks Blick lässt keinen Interpretationsspielraum zu. Die Tour geht weiter, zu Fuß.

Beliebte Fotomotive: Sechserbrücke und IBA-Bauten

Wir erreichen die Tegeler Hafenbrücke. Wobei, eigentlich nennt sie niemand so. Die stählerne Bogenbrücke, 1909 erbaut und 91 Meter lang, wird im Volksmund Sechserbrücke genannt. Und das hat einen Grund: Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Gegend rund um den Tegeler See immer populärer. Damit die Ausflügler und Wanderer auch zur Promenade kommen konnte, mussten sie das Tegeler Fließ überqueren. Ein pfiffiger Geschäftsmann, der Fischer Siebert, setzte mit seinem Boot die Ausflügler rüber und nahm dafür fünf Pfennig – in Berlin »Sechser genannt«. Als das Besucheraufkommen zu groß wurde, baute er sogar eine Holzbrücke. Für die Nutzung nahm er weiterhin einen »Sechser«. Daher stammt die volkstümliche Bezeichnung.

»Von der Brücke hat man einen phantastischen Blick auf den Tegeler See und die Inseln«, sagt Frau Freese-Roennbeck. Nun ja. Geht aber gerade nicht. Leider ist die Brücke gerade gesperrt. Dann eben die andere Seite. Dort erstreckt sich der Tegeler Hafen mit den IBA- Bauten. Auch schön. Schön luxuriös vor allem. IBA ist die Abkürzung für Internationale Bauausstellung (IBA). Das war 1987 ein Riesen-Bau-Projekt zur Aufwertung des West-Berliner Wohnbestandes. Als ich die protzigen Villen und Wohnhäuser am Ufer sehe, will ich mir gar nicht ausmalen, was es wohl kosten mag, hier eine Immobilie zu mieten, geschweige denn zu kaufen.

Luxuswohnungen am Wasser in Alt-Tegel

Frank Störbrauck

Architektur-Meisterwerk: die Humboldt-Bibliothek 

An diesem heißen August-Sommertag tummeln sich einige Bewohner der illustren Bauten auf ihren Balkonen. Eine ältere Dame gießt die Blumen, andere räkeln sich auf ihren Sonnenliegen. Hier und da huscht ein Blick zu uns herüber. Ich fühle mich beim Beobachten ertappt und blicke verschämt zur Seite. Frau Freese-Roennbeck denkt aber gar nicht daran, umzukehren. »Ein besonders schönes Gebäude kommt jetzt gleich«, sagt sie und geht voran. Und dann stehen wir vor der Humboldt-Bibliothek. Sie wurde vom amerikanischen Architekten Charles Moore im Stil der Postmoderne gebaut. Namenspatronen der Bibliothek sind – man ahnt es schon – die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt. Vor der Bibliothek hat man ihnen zu Ehren zwei Statuen aufgebaut.

Charles Moores Meisterwerk ist, so heißt es, »eine Mischung aus Stilelementen des Industriebaus, des Sakralbaus und des Repräsentationsbaus«. Das sieht man ganz besonders im Inneren des Gebäudes. Riesige Wände voll mit Büchern dominieren das Bild in der dreischiffigen Halle. Sakral und barock wirkt diese Bibliothek. Ein Hingucker sind die an Schiffslaternen erinnernde Lampen aus Kupfer. Lange bleiben wir hier nicht, denn meine Sightseeing-Zeit ist schon wieder vorbei. »Ich empfehle ihnen dringend, die anderen Ortsteile Reinickendorfs zu besuchen. Sehr vielschichtig«, sagt Frau Freese-Roennbeck bevor sie sich verabschiedet.

Reinickendorf – viel grüner als gedacht

Aber ganz Reinickendorf an einem Wochenende entdecken, das kann ich mir abschminken. Viel zu groß. Etwas mehr als 260.000 Menschen leben im Bezirk Reinickendorf. Elf Ortsteile gehören dazu, die – man kann es nicht anders sagen – sehr unterschiedlich sind. Während Hermsdorf, Konradshöhe, Waidmannslust und vor allem Frohnau als ziemlich wohlhabend gelten, ist die Reputation von Orteilen wie Reinickendorf-Ost, Tegel-Süd und das Märkische Viertel eher bescheiden. Und ziemlich grün ist es hier: Ein Viertel des Bezirkes besteht aus Wald.

Museum Reinickendorf

Frank Störbrauck

Das ist denn auch ein Pfund, mit dem Reinickendorf wuchern kann. Man hat extra eine Broschüre dazu herausgegeben. Sie trägt den verheißungsvollen Namen »Das Grüne Paradies der Hauptstadt« und wird vom Tourismusverein Berlin-Reinickendorf e. V. in Kooperation mit der Tourismusgesellschaft »Visit Berlin« herausgegeben. Das dürfte gerade in diesem Corona-Jahr den Tourismusverantwortlichen Berlins gefallen. Denn sie preisen in diesen Tagen die Stadt unermüdlich an für Erlebnisse am Wasser und im Grünen.

Flora und Fauna im Tegeler Fließ entdecken

Einer der schönsten grünen Seiten Reinickendorfs ist das »Tegeler Fließ«. Die Sumpf- und Flusslandschaft zieht sich von den Ufern des Tegeler Sees bis in den Ortsteil Lübar. »Wanderwege und ein Naturlehrpfad führen Sie vorbei an Brutplätzen, seltenen Blumen, Gehölzen und Bäumen«, verspricht die Broschüre. Als ich an dem Naturlehrpfad ankomme, habe ich Glück. Die Sonne scheint, der Himmel ist strahlend blau. Und auch hier wieder das selbe Bild wie in Alt-Tegel: Touristen sind weit und breit nicht zu sehen.

Fahrradfahrerin auf den Holzstegen im Tegeler Fließ

Frank Störbrauck

Der Naturlehrpfad kommt in Gestalt eines verwinkelt wirkenden Holzstegs daher. Auf Informationstafeln entlang des Weges, der durch eine urwüchsige Bachauenlandschaft führt, gibt es Informationen zu Flora und Fauna im Tegeler Fließ. Fischotter, Biber, Wachtelkönig, Neuntöter und seltene Arten wie Braunkehlchen oder Beutelmeise haben hier ein Zuhause gefunden, erfahre ich. Schade, einen Biber hätte ich gern vor die Linse bekommen. Aber so ganz für mich allein habe ich diesen idyllischen Ort nicht. Immer wieder kommen Tageswanderer und Familien, die eine Fahrradtour unternehmen, vorbei.

Das schönste Dorf Berlins: Lübars

Ein wunderbarer Ort, um den Tag ausklingen zu lassen, ist Alt-Lübars. Der direkt an der Grenze zu Brandenburg gelegene Ortsteil Reinickendorfs kann wohl mit Fug und Recht als der dörflichste Ort Berlins bezeichnet zu werden. Etwas weniger als 5.000 Menschen leben hier. Es gibt einen historischen Dorfkern mit Pflastersteinen, nebenan Reiterhöfe, Stallungen und Bauernhöfe. Mitten im Dorf steht eine alte Telefonzelle, knallgelb lackiert und schon längst zu einer Bücherschränke umfunktioniert.

Bücherschrank in alter Telefonzelle in Alt-Lübars in Berlin

Frank Störbrauck

Ihr gegenüber lädt der Gasthof »Alter Dorfkrug« durstige und hungrige Ausflügler ein. Die Auswahl fällt nicht leicht. Auf der Speisekarte finden sich Leckereien wie gratinierter Ziegenkäse mit geröstetem italienischen Landschinken und rosagebratener Kalbstafelspitz. Ich ordere erst einmal ein Glas Rotwein und blättere in meiner Broschüre. Eine Inspiration für den nächsten Tag. Eine Tischnachbarin spricht mich an. Wir plaudern, ich erzähle ihr von meinen Erkundungen. Sie nickt die meiste Zeit stumm und sagt dann: »So viel Grün, das gibt es nicht in Berlins Zentrum.« Sie habe Jahrzehnte in Mitte gelebt. Irgendwann war es ihr zu viel. Der Lärm, die vielen Touristen. Aber hier, im Berliner Norden, habe sie ihr neues Zuhause gefunden. »Ich musste ganz aus der Stadt weggehen, um zu erleben, wie schön es hier ist.«

Gasthof Alter Dorfkrug in Alt-Lübars

Frank Störbrauck