Von Italien eingerahmt, liegt rund um Lugano im Kanton Tessin oder südlichste Zipfel der Schweiz. Nicht nur der sonnengeküsste Wein von hier ist etwas ganz Besonderes. Die frischen Zutaten der Region laden Feinschmecker aus aller Welt zum Schlemmen ein. Völlig verdient wurden dieses Jahr deswegen drei Köche im Tessin neu mit dem Michelin-Stern ausgezeichnet. Redakteurin Marie Tysiak durfte sich durchprobieren.

Einzigartige Tropfen aus dem Tessin

Ganz leise raschelt der Wind durch die grünen Reben. Noch hängen hier junge Merlot-Trauben, die im kommenden Herbst in fein säuberlicher Handarbeit geerntet werden. In hochmodernen Tanks reifen diese dann in der frisch renovierten Kellerei des Weinguts Tenuta Castello di Morcote zu einzigartigen Tropfen heran, die sich weit über den Tessin einen Namen gemacht haben. Die Weine des zweigeteilten, insgesamt zwölf Hektar messenden Weinguts sind nicht nur biozertifiziert, sondern werden zudem biodynamisch angebaut. Das bedeutet: Neben den reinen, schadstofffreien Zutaten wird auch der Boden nach der Lehre Rudolph Steiners als lebender Organismus behandelt und nach dem Mondkalender komplett natürlich bewirtschaftet. Alles bleibt in Balance, natürlicher Dünger kommt zum Beispiel von Eseln, die in den Wintermonaten in den Weinbergen weiden.

Drohenaufnahme Weingut Tenuta Castello di Morcote

Marie Tysiak

Es ist eine der vielen Innovationen, mit denen Gaby Gianini das Weingut, das sie von ihrem Großvater übernahm, heute prägt. Vielleicht ist ihr diese natürliche und tiefe Schönheit zu verdanken, die dieser Ort ausstrahlt.

Ein Weingut wie von einer anderen Welt

Ob man nun an die Kraft der biodynamischen Bewirtschaftung glaubt oder nicht; das Ambiente des Weinguts Tenuta Castello di Morcote könnte nicht schöner sein: Die steilen Hänge am Ufer des Luganer Sees bieten einen Rundumblick auf die umliegenden Berge und das tiefblaue Wasser, das sich im Tal ausbreitet. Am Ufer unter uns das historische Künstlerdorf Morcote, über uns die tief stehende Sonne, die die gegenüberliegende Seeseite – die bereits zu Italien gehört – in ein zauberhaftes Licht taucht. Schon die Römer kultivierten hier Wein.

Schweizer Künstlerdorf Morcote

Marie Tysiak

Das hingegen mittelalterliche Fort oberhalb der Weinberge dient heute als spektakuläre Kulisse. Im Innenhof ist der weiße Tisch bereits gedeckt zum Dinner bei Sonnenuntergang. Gaby geleitet uns erzählend durch die geschwungenen Reben hinauf. Hier und da sammelt sie ein paar Blumen am Wegesrand. Oben angekommen, stellt sie sie in die Vase, die auf der Tafel bereitsteht. Eine beeindruckende Frau, die das Weingut nun gemeinsam mit ihrem Mann in vierter Generation führt. Einen schöneren Empfang im Tessin hätte ich mir nicht vorstellen können.

Winzerin Gaby Gianini im Tenuta Castello di Morcote

Marie Tysiak

Marialuce und ihre Käsegrotte

Am nächsten Morgen treffe ich Marialuce Valutini in dem beschaulichen Dorf Sagno im wunderschönen Valle di Muggio in den Tessiner Bergen südlich des Luganer Sees. Die kleine, kurzhaarige Frau sprüht nur so vor Energie. Sie winkt mir freudig zu, als ihr grauhaariger Schopf um die schmale Gasse gebogen kommt. Während sie nach dem großen Schlüssel für die schwere Pforte zur Grotte kramt, plaudert sie los. Gestikulierend erzählt sie, dass es hier in ihrem Heimatdorf viele dieser historischen Kammern gibt, die, tief in den kalkhaltigen Berg geschlagen, seit Jahrhunderten den Familien als natürliche Kühlschränke dienen. Denn: Die Temperatur in den Grotten bleibt das ganze Jahr konstant kühl.

Marialuce Valutini reift Käse in Grotten im Tessin und nimmt Gäste kulinarisch mit

Marie Tysiak

Als sie die große Tür öffnet, kommt mir ein Geruch entgegen, der augenblicklich verrät, wozu Marialuce die Familiengrotte heute nutzt: Sie reift hier Käse. Und zwar nicht nur irgendeinen Käse, sondern einige der besten und besonderen Sorten des Tessins, die aus frischer Rohmilch der umliegenden Höfe des Valle di Muggios produziert werden.

Gincarlin – Ein Duo aus Käse und Gin

Ihrer neuesten Käsekreation liegt eine schöne Geschichte zugrunde, wie sie auch nur in einem solch malerischen Ort geschrieben wird: Zur alljährlichen Kastanienernte im Herbst kommt das Dorf zu einem Fest zusammen, lokale Produzenten bieten hierzu auf einem kleinen Markt ihre regionalen Köstlichkeiten an. So auch Marialuce, die ihren Käse gleich neben dem Gin-Stand der vier jungen Herren Martino, John, Rupen und Giona verkaufte, die erst vor wenigen Monaten mit dem Destillieren ihres Lieblingsdrinks unter dem Start-up Bisbino begonnen hatten.

Gincarlin, Käse mit Gin aus der Schweiz

Marie Tysiak

Ein paar Gin Tonics später hatte Marialuce den Entschluss gefasst, ihren Käse während der Reifung von nun an mit dieser köstlichen Spirituose einzureiben – anstelle von Wein. Gesagt getan, die neu kreierte Sorte fand schnell viele Liebhaber: Gincarlin – in Anlehnung an den traditionellen Zincarlin, wie man diese würzigen, gereiften Käsehüttchen hier nennt. Das ungleiche Duo von Marialuce und den Jungs von Bisbino, deren Gins mit den Botanicals aus dem eigenen Kräutergarten am Hang des Dorfes verfeinert werden, erregte schnell Aufmerksamkeit.

Spitzenküche in pittoresker Lage

Heute ist Marialuces Käse innerhalb kürzester Zeit ausverkauft, die Jungs erzeugen mittlerweile hauptberuflich fast ein Dutzend verschiedene Spirituosen und Biere. Er schmeckt aber auch einfach einzigartig, der würzige Gincarlin von Marialuce. So gut, dass Chefkoch Domenico Ruberto des Splendide Royal Hotels aus dem nahen Lugano ihn für viele seiner Kreationen nutzt – für die der 35 Jahre junge Italiener aus Kalabrien dieses Jahr mit dem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde.

Wer den berüchtigten Käse probieren mag, der ist herzlich zum Mittag eingeladen, wo der Gincarlin die Pizza aus dem mobilen Pizzaofen verfeinert – und zum Abend natürlich die Gourmet-Menüs des I Due Sud. Selbstverständlich wird zu allem gern ein frischer Gin Tonic mit dem Bisbino aus Sagno serviert. Bei schönster Aussicht über Lugano, seine pittoreske Seepromenade und die wankenden Ausflugsboote gleich vor der Terrasse.

Sitzecke auf der Terrasse des Splendide Royal Hotel am Luganer See

Marie Tysiak

Befinden wir uns hier noch in der Schweiz?

Domenico Ruberto ist aber nur einer von drei Köchen, die sich seit diesem Jahr über die Auszeichnung von Michelin freuen dürfen. Ich besuche Cristian Moreschi in der Villa Principe Leopoldo oberhalb von Lugano. Wer durch die Eingangshalle auf die Terrasse schreitet, versteht, warum das Taxi auf dem Weg hierher manchmal in den ersten Ganz zurückschalten muss. Das Fünf-Sterne-Anwesen befindet sich weit oberhalb des Sees. Die Palmen und Zitrusbäume auf der Terrasse vor der Kulisse des Sees, dahinter die grünen Fensterläden der mit Jasminblüten übersäten Villa, einem Adelshaus aus den frühen 1900er-Jahren, zeigen ganz klar: Das Tessin ist mediterran. So sehr, dass man manchmal glatt vergisst, sich in der Schweiz zu befinden.

Aber zugegeben – einst wurde die Region tatsächlich von Mailand aus regiert. Doch Napoleon überließ den Menschen nach seiner Eroberung die Wahl – und so gehört das Tessin seit ca. 1800 zur Schweiz. Nicht zuletzt die Kulinarik zeugt von dieser Vergangenheit und der Nähe zu Italien.

Tessin kulinarisch entdecken in der Villa Principe Leopoldo, wo Cristian Moreschi auftischt

Marie Tysiak

In acht Gängen durch das Tessin gereist

Und so sitze ich mit einem weißen Merlot des Tessiner Weinguts Gialdi vor dem ersten Gang des Abends. Cristian Moreschi hat Gänseleber mit Rhabarber, Erdbeeren und Portwein so verfeinert, dass ich einfach nur baff bin, da ich – zugegeben – bei Leber anfangs oft skeptisch bin, obwohl ich längst eines Besseren belehrt wurde. Es ist ein Gedicht – und obwohl man es nicht glauben mag: Von Gang zu Gang übertrifft er sich selbst. Und das ist eine wahre Kunst, denn es werden insgesamt acht Gänge aufgetischt. Die Weinbegleitung ist auf den Punkt, die Weine oft lokal und perfekt abgestimmt. Zwischen dem kunstvoll angerichteten Zackenbarsch und dem Tessiner Kaninchenrücken bin ich mir sicher: Dieser Stern ist mehr als verdient. Und für die Kulisse kann man glatt noch einen weiteren drauflegen.

Aussicht von der Villa Principe Leopoldo auf den Luganer See

Marie Tysiak

Als zum Abschluss ein »Or Noir« jeden Schokoladentraum in den Schatten stellt, schaut Chefkoch Cristian Moreschi höchstpersönlich vorbei. Ich strahle ihn einfach nur glückstrunken an. Okay, etwas Wein war auch im Spiel. Waren ja immerhin acht Gänge.

Eine Bootsfahrt zu historischen Ufern

Zum Abschluss dieser kulinarischen Tour durch das Tessin möchte ich am letzten Abend ein Essen der traditionellen Art genießen. Dazu muss ich auf ein Boot, das mich von Lugano vorbei an der fotogenen Altstadt von Gandria auf die andere Uferseite bringt. Denn hier – nur vom Wasser aus erreichbar – liegt bei Caprino die Grotto de Pescatori. Die Höhle, die (genau wie Marialuces Käsegrotte) einst genutzt wurde, um Wein, Käse und Salami kühl zu lagern, etablierte sich im Laufe der Jahrhunderte zum Treffpunkt, genau wie die anderen Grottos an dieser Uferseite. Man speiste auf den kleinen Tischen vor der Grotte, es wurde getanzt und gefeiert.

Grotto de Pescatori am Abend

Marie Tysiak

Heute sind die Holzbänke voll besetzt, als das Boot an dem kleinen Anleger stoppt. Lautes Lachen ist zu hören, Weingläser klirren, der Duft von gebratenem Fisch liegt in der Luft. Ich denke kurz an Gaby Gianini zurück. Wie sie, völlig in sich ruhend, ihren Weinberg hochspaziert ist, dabei hier und da die Blätter gestreichelt hat – und mit ihrer Hingabe perfekte Zutaten hervorbringt. Die Menschen im Tessin wissen es zu schätzen, was die Natur ihnen gibt. Diese Tradition wird durch die Innovation der Tessiner bereichert, wenn ich zum Beispiel so an den Gincarlin von Marialuce denke. »Slow Food« ist hier seit Jahrtausenden Lebensrealität in einer modern interpretierten Küche. Und das macht das Tessin zu einem echten Geschmackserlebnis.