Eine Reise in die Antarktis kann inzwischen fast jeder wagen. Trotzdem bleibt die Fahrt abenteuerlich, denn die Natur hat hier weiterhin uneingeschränkt das Sagen. Eine Reise in die Antarktis. Text: Martin Wein
»Wechselhaft, windig, um minus zwei Grad« hatte das Tagesprogramm versprochen. Vorhin hat Kreuzfahrtdirektorin Olga Bozhko über Lautsprecher den geplanten Vortrag über Pinguine abgesagt. »Aus Sicherheitsgründen.« Jetzt meldet sie sich wieder mit zuckersüßer Stimme. Man möge doch bitte für ein, zwei Stunden in der Kabine bleiben, sagt sie. Draußen vor dem Panoramafenster türmen sich die Wellen des Südatlantiks bereits in Höhe von Einfamilienhäusern.
Vor eine Reise in die Antarktis hat die Natur die Drake-Passage südlich von Feuerland gestellt. 1.000 Kilometer offenes Wasser, das kräftige Westwinde ständig im Kreis um die Erde schieben. Die Gegend ist berüchtigt für ihre Stürme und den hohen Seegang. Von den »Furious Fifties« und den »Sreaming Sixties« sprechen Seeleute, den wilden Fünfziger- und den heulenden Sechziger-Breiten. Wer sich trotzdem aus dem Zimmer, respektive der Kabine wagt, der trifft ganz oben auf Deck 6 der MS Hamburg im Restaurant Palmgarten nur die ganz Hartgesottenen. »Ich geh nicht rein«, faucht ein einsamer Mann unter der Kapuze seines Parkas hervor. Der Senior hat es sich im überdachten Rauchereckchen in einem Korbstuhl mit Blick auf flatterndes Absperrband rund ums Pooldeck bequem gemacht. Von hier aus kann er genau verfolgen, wie das Schiff am Bug in die Höhe wächst und dann ins nächste Wellental hinabrauscht, bis der Horizont verschwindet. »Genau das habe ich gebucht«, ruft er zufrieden.
Durch den Sturm Richtung Antarktis
Ein Hobbysegler aus Hamburg lehnt derweil entspannt drinnen an einer der Panoramascheiben und schaut in die Gischt. Ja, das seien schon sechs Meter hohe Wellen bei Windstärke zwölf, erklärt er. Nichts für seine Ostsee-Jolle daheim. »Da könnte man jetzt den Horizont gar nicht mehr erkennen.« Während das kleine Kreuzfahrtschiff immer wieder durchgeschüttelt wird bis in seine Grundfesten, referiert der Norddeutsche über Kreuzseen. Die entstehen, wenn verschiedene Wellenprofile aufeinandertreffen. Und genau dazu kommt es gerade mitten in diesem mächtigen Wirbelsturm, als Kapitän Igor Gaber – er ist im neunten Jahr in der Antarktis unterwegs – das Schiff im richtigen Moment so in den Wind dreht, dass der nicht mehr seitlich, sondern von hinten kommt. »Der Kapitän ist ein echter Fuchs«, lobt der Segler anerkennend, während sich das Rütteln und Schaukeln legt und die Restaurant-Crew im Palmgarten die Kaffeestunde vorbereitet. Butterweich die Wellen schneidend dampft die »Hamburg« nun mit 14 Knoten in der Stunde ihrem nächsten Ziel entgegen.
Eine Reise in antarktische Gefilde kann heute prinzipiell jeder buchen, der noch einigermaßen gut zu Fuß ist und das nötige Kleingeld auf dem Konto hat. Dabei spielt die Auswahl des Schiffes keine so große Rolle. Nur zu groß darf es nicht sein, denn bei mehr als 500 Passagieren sind Landgänge untersagt. Ansonsten fahren alle – ob Highend-Luxusjacht mit U-Boot und Helikopter oder ein robuster Allrounder wie die »Hamburg« – dieselben Landestellen an. Dafür bleiben in der eigentlichen Antarktis in der Regel nur vier Tage Zeit, auch wenn die Reiseprogramme den Aufenthalt bisweilen länger erscheinen lassen. Ein kalbender Gletscher oder eine Schule Buckelwale ist in dieser knapp bemessenen Zeit den meisten Gästen deshalb meist wichtiger als das Mittagessen, und sei es noch so mondän.
Heutzutage rund 100.000 Touristen pro Jahr in der Antarktis
Vollverpflegt, umsorgt und bei allen Landgängen behütet wie in einer Vorschulgruppe vergisst mancher der 236 Passagiere dabei unterwegs, wo man sich eigentlich befindet. 1988 kamen erst 3.000 bis 4.000 Touristen auf den siebten Kontinent. Im Südsommer 2022/23 werden es rund 100.000 sein. 76 Schiffe haben Touren angemeldet. Antarktis-Reisen sind fester Teil des touristischen Angebots.
»Trotzdem darf man die Antarktis nicht unterschätzen«
sagt Expeditionsleiter Rustin Mesdag, der mit der MS Hamburg seine 42. Reise dorthin unternimmt. »Menschen gehören dort nicht hin. Ohne das Schiff als Backup wären wir verloren.«
Der erste Eindruck scheint dem zu widersprechen. In der Maxwell Bay an der Südküste von King George Island, noch rund 120 Kilometer nördlich der Antarktischen Halbinsel, haben Russen, Chilenen, Argentinier, Südkoreaner und Chinesen Forschungsstationen gebaut. Vereinzelt fahren Geländewagen durch den dichten Nebel. In der Nähe gibt es sogar ein chilenisches Dorf. Auf einem Hügel wartet seit 2004 die russisch-orthodoxe Dreifaltigkeitskirche auf Gläubige. Ganzjährig steht ein Pope bereit, falls sich Heiratswillige unter ihrem hölzernen Zwiebeltürmchen das Jawort geben möchten. Doch stattdessen streitet sich unten am Strand gerade ein Paar Zügelpinguine mit dem markanten schwarzen Strich an der Kehle mit schrillen Lauten über Alltägliches.
Zehn Gletscher und unzählige Pinguine
Nur eine Bucht weiter in der breiten Admirality Bay sieht die Sache dann anders aus. Zehn Gletscher umrahmen das geschützte Gewässer zwischen Demay Point und Martins Head. Vereinzelt ragen Nunataks als einsame Felszacken aus dem Eis heraus. Buckelwale ziehen ihre Kreise. Weil auch das Schiffsinternet nicht funktioniert, ist die Abgeschiedenheit vollkommen. Man steht an Deck und staunt und horcht in die Stille hinein. Erst als im Palmgarten der Mitternachtssnack gereicht wird, versinkt die goldene Sonne für ein paar Stunden hinter den Bergen.
Geschäftiger zu geht es am nächsten Morgen ein Stück weiter westlich auf dem winzigen Half Moon Island, wo Rustin Mesdag und seine Crew die Touristen mit den bordeigenen Schlauchbooten für eine Stunde Auslauf an einem Kiesstrand an Land setzen. Ein befracktes Empfangskommando grüßt die Gäste aber schon an der Landestelle. Es sind Eselspinguine. An den Hängen des alten Vulkankraters, dessen Schlote wie riesengroße Korallenstöcke in die Höhe ragen, brüten Hunderte von ihnen. Im Gänsemarsch stapfen die Besucher in ihren Gummistiefeln mit Blick auf das Wrack eines gestrandeten Ruderbootes hoch zur Kolonie.
Immer wieder gilt es anzuhalten, wenn eilige Vögel unterwegs zum Strand den Weg kreuzen. In gebührendem Abstand vor einem schlafenden Pinguin ist Schluss. Keinesfalls soll der Besuch die Tiere beeinträchtigen. Doch auch so gibt es aus nächster Nähe genug zu sehen: Wie sich die Pinguine mit dem roten Schnabel immer wieder um kleine Kieselsteine für ihre Nester hacken. Oder sich eine Raubmöwe ein verendetes Küken schmecken lässt, argwöhnisch beäugt von neidischen Weißgesicht-Scheidenschnäbeln. Nur eine fette Wedellrobbe döst unbeeindruckt von dem ganzen Treiben im Ufersaum. Die Tiernamen hat nach zehn Tagen an Bord wohl jeder parat, schließlich soll eine Antarktisreise eine Umweltbildungsreise sein und keine Butterfahrt.
Nicht immer spielt das Wetter beim Landgang mit
Nicht alle Anlandungen klappen so, wie sie vom Veranstalter ein Jahr zuvor bei der International Association of Antarctica Tour Operators (IAATO) gebucht wurden. Einen besonders stürmischen Nachmittag muss die »Hamburg« bei strahlendem Sonnenschein mit vier anderen Schiffen in der relativ geschützten Dallmann-Bucht im Palmer-Archipel »abwettern«, wie Seeleute das Warten nennen. Nur eine kleine Rundfahrt zum einzigen Leuchtturm der Antarktis und zur erst 2003 entdeckten Bremen-Insel ist möglich. Die Besatzung des damals für Hapag-Lloyd fahrenden Kreuzers »Bremen« hatte entdeckt, dass der Klimawandel eine Eisbrücke zu dem Inselchen geschmolzen hatte.
Von einem Besuch in Port Lockroy am Südende des berühmten Neumeyer-Kanals lässt sich der Kapitän indessen nicht abbringen. Trotz Schneetreibens schickt Igor Gaber die Gäste an Land. Das Expeditionsteam hat eigens Handtücher auf den Felsen an der Landestelle ausgelegt, damit niemand ins Rutschen kommt. Benannt ist der Naturhafen zwar nach einem Franzosen. Aber vor der Hütte der alten Forschungsstation flattert der Union Jack. Vier Damen des United Kingdom Antarctic Heritage Trust betreiben hier vier Monate im Jahr das südlichste Postamt der Welt und einen gut bestückten Souvenirshop. Nebenan in den restaurierten Räumen kann man zwischen angerosteten Dosen mit Corned Beef, Margarine und gekochten Haferflocken, einer Bar mit Plattenspieler und einem Plumpsklo nachempfinden, wie Wissenschaftler in den 1950er-Jahren hier ausharrten. Draußen brüten die Eselspinguine gleich vor der Tür, so dass ein Blick direkt in ihre Steinnester möglich ist. Eine Vergleichsstudie hat ergeben, dass die Tiere sich in ihrem Brutgeschäft von den menschlichen Zweibeinern nicht stören lassen.
Inspirationsquelle Antarktis
Das Panorama mit den hin und her watschelnden, balzenden und zankenden Vögel im dichten Schneetreiben vor einer roten Gerätehütte und der weiten Bucht erinnert an die Winterlandschaften von Pieter Brueghel dem Älteren. Würde der Niederländer heute leben, würde auch er angesichts der Klimakrise die Motive für seine winterlichen Wimmelbilder nicht mehr an den vereisten Kanälen der Niederlande suchen, sondern in Gefilde wie diese ausweichen. Die Pinguine jedenfalls lassen keinen kalt. Zum Glück sind sie nur als niedliche Fotomotive gefragt: »Sie schmecken nicht«, sagt George Podder, der indische Küchenchef der »Hamburg«. Stattdessen schnitzt Podder die Vögel zur nächsten Kaffeestunde aus Wassermelonen, Ananas und Mohrrüben.
Mehr Informationen zu Schiffsreise in die Antarktis
Anreise: Anreise nach Ushuaia am bequemsten mit Lufthansa und Aerolineas Argentinas über Buenos Aires in 24 Stunden ab 2.400 Euro. Einige Reedereien organisieren Charterflüge (ab 18 Stunden).
Reisezeit: Dezember bis Februar
Unterwegs: Die Anbieter White Desert und Antarctic Logistics & Expeditions bieten von Kapstadt bzw. Punta Arenas (Chile) Flugarrangements auch mit Übernachtung in insgesamt 8 Zeltcamps an. Preis ab 14.500 USD (1 Tag) bzw. 27.750 USD (6 Tage). Erheblich günstiger sind Expeditionskreuzfahrten. Aus Deutschland operieren vor allem Plantours und Partner und Hapag-Lloyd Cruises.
Die Reise: Die vorgestellte Kreuzfahrt mit der MS Hamburg zur antarktischen Halbinsel und den Falkland-Inseln ist bei Plantours im Dezember 2023 inkl. Charterflug ab Frankfurt und Vollverpflegung in der Doppelkabine innen ab 5.399 Euro buchbar.
Mehr Informationen liefert die International Association Antarctica Tour Operators.