Litauens endlose Wiesen und Wälder, Lettlands einsame Strände, Estlands unzählige Inseln und Seen: Im Nordosten Europas vereint das Baltikum einige der schönsten Landschaften des Kontinents zu einem Traum am Meer. Die funkelndsten Bernsteine darin sind Vilnius, Riga und Tallinn. Text: Carsten Heinke

Eine Bahnreise ins Baltikum dauert so lange wie ein Flug nach Australien. Doch als der Zug aus Deutschland nach fast einem Tag in der litauischen Hauptstadt Vilnius einrollt, befinde ich mich immer noch in Mitteleuropa. 26 Kilometer nördlich, bei Purnuškės, liegt das geografische Zentrum des Kontinents. Das Reich, das polnisch-litauische Großfürsten einst von hier regierten, reichte bis zum Schwarzen Meer. Was davon übrig blieb, beherrschten später Zaren und Sowjets. Heute zeigt die flächenmäßig größte Stadt des Baltikums viel europäische Geschichte, gibt sich modern und weltgewandt.

Gotische Backsteinkunst wie der Gediminas-Turm oder die hübsche Sankt-Annen-Kirche (die Napoleon mit nach Paris nehmen wollte), Malerisches aus Barock und Klassizismus mischen sich mit futuristischer Glas-, Beton- und Stahlästhetik. Star der neuen Skyline ist der Europa Tower, mit 148 Metern Wolkenkratzer Nr. 1 im Baltikum. Je länger ich durch Vilnius laufe, desto mehr erscheint es mir als Bilderbuch zum Blättern und zum Träumen, zugleich als virtuelles Spiel, in dem Vergangenheit und Zukunft auf einem Skateboard um die Wette brettern.

Must see in Vilnius: Kathedralenplatz und Sankt-Stanislaus-und-Ladislaus-Basilika

In engen Holpergassen und an schönen Plätzen mit viel Grün und Brunnenwasser drängen sich die trendigen Lokale und Cafés, Gasthausbrauereien, Galerien und Boutiquen. Daneben liegt der Kathedralenplatz mit der Sankt-Stanislaus-und-Ladislaus-Basilika und ihrem schiefen Glockenturm, der schon zu Minnesängerzeiten aus einem Teil der alten Unterburg recycelt wurde. Dank Portikus und Säulen wirkt der schlichte weiße Kirchenbau recht römisch. Die weite freie Fläche ringsum ist ein Markt der Eitelkeiten und Gelegenheiten.

Vilnius Sankt Stannislaus

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Straßenhändler, Schauspieler und Überlebenskünstler gehen ihrem Tagwerk nach. Kopfbetuchte Mütterchen sitzen neben Zeitungslesern auf den Bänken. Zum Schauen gibt es immer etwas, denn hier kreuzen sich die Wege der Schicken und der Schrillen, der Bummler und der Haster. Einer führt ins Künstlerviertel Užupis. Einst bewohnt von Juden, verwahrloste der kleine Stadtteil nach dem Holocaust und wurde Vilnius‘ Schmuddelecke. Kreative Hausbesetzer hauchten ihm neues Leben ein und erklärten ihn 1997 zur freien Republik. Für kurze Zeit verfügte diese sogar über eine eigene, zwölf Mann starke Armee. Aufgrund des völligen Gewaltverzichts wurde sie jedoch für sinnlos erklärt und wieder aufgelöst. Inzwischen ist der Szene-Kiez gut etabliert und brav geworden. Wenn heute auch geschmückt mit Ehrenbürgern wie dem Dalai Lama, der ihn 2013 besuchte: Der Spaßstaat ist Folklore.

Nachts knarren die Hexen

Ich fahre in die Hafenstadt Klaipėda und nehme eine Fähre auf die Kurische Nehrung, die sich Litauen mit Russland teilt. Oft nur wenige Hundert Meter breit ist die 98 Kilometer lange Sandlandzunge zwischen Haff und Ostsee. In wenigen Minuten bin ich da.

Stand an der Kurischen Nehrung

Carsten Heinke

Es riecht nach Kiefernwald und Räucherfisch. Neben Meeresgetier und Vögeln leben hier meist unsichtbare Elche. Rar macht sich auch der Bernstein, der heutzutage vor allem aus dem Boden kommt. Strandblindgänger wie ich finden ihn meist erst beim Händler – oder in Nida, dem größten Ort der Nehrung.

In allen erdenklichen Farben und Formen schimmert es in den Vitrinen des Werkstattmuseums von Virginija und Kazimieras Mizgiris. Das »Gold der Ostsee«, dem das Künstlerpaar sein Haus gewidmet hat, muss nicht immer gelb und braun, sondern kann auch schwarz, weiß, rot oder grün sein. Einige der fossilen Harztropfen sind kristallklar, andere halten Pflanzenteile oder ganze Tiere gefangen. Der größte wiegt zwei Kilo, der spektakulärste hat eine Schnecke samt Häuschen konserviert.

Bernstein, das Gold der Ostsee, gibt es im Baltikum zur Genüge.

Carsten Heinke

»Diese Energie ist 50 Millionen Jahre alt«, sagt Museumsführerin Austėja und reicht mir einen Urzeit-Wodka.

Manns ehemalige Datscha ist heute ein Kulturzentrum

Vom aufgelösten Bernstein ist er honigfarben – und schmeckt nach Möbelpolitur. Was Thomas Mann so alles trank, wenn er in Nida seinen ganz privaten »Italienblick« genoss, ist nicht bekannt. Des Dichters einstige Datscha am Haff ist jetzt ein Kulturzentrum. Gleich nebenan beginnt das Wandersandgebirge mit bis zu über 60 Meter hohen Dünenbergen und spektakulären Sonnenuntergängen.

Kulturzentrum Thomas Mann Nida

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Mein Gästehaus in Juodkrantė steht direkt am Hexenberg. Eine Fee aus Holz weist mir den Weg. Ich treffe hakennasige Weibchen, Kobolde und Teufel – an die 100 wundervolle Schnitzkunstwerke. Auf manchen kann man sitzen oder klettern, andere als Wippe oder Schaukel nutzen. Das tun nicht nur Kinder gern, wie ich nachts vom Bett aus hören kann.

»Um elf an der Laima-Uhr«, hatte Ģirts am Telefon gesagt. Wie die meisten, die sich in Rigas Zentrum verabreden, treffen wir uns an der acht Meter hohen Zeitsäule, nicht weit vom Freiheitsdenkmal am Rand der Altstadt.

»Laima ist unsere Glücks- und Schicksalsgöttin, aber auch sehr gute Schokolade«, sagt der nette Lette, ein Freund, der mich beim Bummel durch seine Hauptstadt begleitet.

Die 1925 gegründete Süßwarenfirma Laima, die die Uhr seit den Dreißigern mit ihrem Namen bewirbt, gehört heute zu den prominentesten im Baltikum. Neuester Renner ist weiße Schokolade mit Carotin und ganzem Kümmel – die Balten lieben ihn.

Lecker: marinierte Gurken und der Talsi-Käse

Eingelegte Gurken schmecken im Baltikum am besten frisch und knackig gleich vom Markt.

Carsten Heinke

Wir schlendern durch das elegante Jugendstil-Viertel rund um die Elizabetesiela mit all seinen verschnörkelten Prachtbauten, feinen Cafés und Restaurants. Vorbei an Schloss und Dom, Schwarzhäupterhaus und Petrikirche, laufen wir über den Daugava-Fluss zu Ģirts‘ Lieblingsplatz, der neuen Nationalbibliothek am anderen Ufer. Der »Schloss aus Licht« genannte Bücherglaspalast war das letzte Werk des in Riga geborenen US-amerikanischen Stararchitekten Gunnar Birkerts (1925–2017).

Zurück über die Steinbrücke, steuern wir den Zentralmarkt an. Seine fünf Hallen dienten schon als Kunstraum für Konzerte und Theater. Gebaut wurden sie im Ersten Weltkrieg als Zeppelinwerft. Einheimische Erzeuger bieten hier täglich frische Lebensmittel an. Meine Favoriten sind die knackigen marinierten Gurken und der pikante Talsi-Käse. Nichtvegetarier fallen in den Rauchfleischrausch – mit deftigem Schinken und Speck in zahllosen Varianten, die am allerbesten zu dem köstlichen dunklen Brot der Letten passen. Das ehrlich-bäuerliche Essen macht Lust auf eine Landpartie.

Das Baltikum ist vor allem eins: Ganz viel Natur!

Carsten Heinke

Dünen, Heide, Storchenwiesen und Moore

Vorbei am Kurort Jūrmala, einst Rigas Stadtstrand, der sich zum turbulenten Badeort gemausert hat, geht es ins stille Kurland, die westlichste der vier Regionen Lettlands. Ihr Name, den sie dem baltischen Volk der Kuren verdankt, klingt nicht nur in deutschen Ohren nach Erholung. Jede Straße, jeder Weg hier endet irgendwann an den endlosen, fast immer einsamen Sandstränden der West- und Nordküste oder einem von Findlingen überhäuften Uferabschnitt der Rigaer Bucht.

Ob im Nationalpark Slītere am Kap Kolka, wo Meerbusen und Ostsee aufeinanderstoßen, oder im Naturpark Pape im Südwesten, den Wildpferde und Wisente bewohnen: überall Szenerien aus Dünen, Heide, Storchenwiesen, Mooren, Seen und Flüssen, Pilz- und Beerenwäldern. Die größten Städte hier sind Liepāja und Ventspils, die schönste das verträumte Kuldīga. Dank seiner liebenswerten alten Holzhäuser, schmalen Gassen und Kanäle war und ist es ein beliebter Drehort – unter anderem für schwedische Kinderfilme.

Baden in der Venta

Ein fesselndes Naturschauspiel setzt im Frühjahr und Herbst die Venta bei Kuldīga in Szene, wenn der fischreiche Fluss über die 240 Meter breite und zwei Meter hohe Stromschnelle »Ventas Rumba« rauscht. Schwärme von »fliegenden« Fischen glitzern im Sonnenlicht.

Fliegende Fische im Fluss

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Mit Blick auf eine wunderschöne alte Backsteinbrücke kann man hier im Sommer herrlich baden und sich von den herabstürzenden Massen des mineralhaltigen Wassers massieren lassen.

Nicht weit davon, in Sabile, reifen Lettlands Trauben auf einem 600 Jahre alten Weinberg, über lange Zeit der nördlichste der Welt. Leider gibt es den raren Rebsaft nur zum Weinfest, das jährlich im August stattfindet. Gleich neben dem Städtchen an der Abava liegt der viele Hektar große Kunsthof Pedvāle mit Freilandwerken aus aller Welt. Mehr um Kult als Kunst geht es bei dem steinernen Krokodil in Dundaga. Es erinnert an den dort geborenen Ethnologen und Reptilienjäger Arvīds Blūmentāls, der 1945 ins australische Exil ging. Berühmt wurde er als Crocodile Harry, der die Idee für den späteren Hollywood-Film »Crocodile Dundee« lieferte.

Estland: Elchwald, Ritter und digitaler Wahn

Der Lange Hermann und die Dicke Margarethe, Kiek in de Kök, Sankt Olai und Sankt Nikolai … Tallinns Türme sind ein steifes, doch illustres Begrüßungskomitee, das aus der Zeit der alten Hanse, Burgfräuleins und Ritter stammt. Mit Geschick und Liebe wurden Gildehäuser, Kirchen und Paläste restauriert.

Kathedrale Tallinn Estland

Beau Swierstra

Und wer auf Mittelaltermärkte steht, ist hier das ganze Jahr in seinem Element. Doch so museal die Hauptstadt Estlands innerhalb der Altstadtmauern wirkt, so hip und zeitgemäß ist sie tatsächlich.

Selbst hinter gotischen Fassaden kann man Jazzkonzerte hören, junge Malerei bewundern oder angesagter Spitzenkochkunst frönen. Anne, die vor dem Gasthof »Olde Hanse« in Renaissance-Klamotten mit kandierten Mandeln handelt, weiß viele Gründe, ihre Heimat hochmodern zu nennen.

»Unser ganzes Land ist online. Behördengänge, Wahlen – alles wird im Internet erledigt. Eltern können sich per Mausklick über Schulzensuren informieren«, zählt die Studentin auf.

99 Prozent der Esten besitzen ein Handy. Das Internet-Telefon Skype ist eine estnische Erfindung. Dank kompletter Umstellung auf E-Government war Estland das erste papierfreie Parlament der Welt. Seit 2017 rollen selbstfahrende Busse durch Tallinn.

Eimerdusche oder Luxus-Schlammbad

Dass man in diesem Land an fast jeder Stelle »Netz hat«, ändert nichts daran, dass es überwiegend aus Natur besteht. Kiefernwälder, Wiesen, Moore – so weit das Auge reicht.

Natur im Baltikum

Carsten Heinke

Nur ab und zu schimmern dazwischen die roten Ziegel eines Bauernhauses. »Früher war das alles hier sehr dicht besiedelt«, sagt Ingrid, die blonde Freundin eines Freundes, die mich auf der Fahrt durch den Soomaa-Nationalpark begleitet. Zu sowjetischen Zeiten seien viele ihrer Landsleute in die Städte gezogen, erzählt die hübsche Estin.

Während sich die Dörfer leerten, wurden die Wälder langsam wieder voller. Dank Naturschutz stieg auch die Zahl der »großen Tiere«. Einem davon zu begegnen, sei jedoch eher unwahrscheinlich, meint Ingrid. »Einem Elch vielleicht, aber keinen Bären, Luchsen oder Wölfen«, fügt sie hinzu. In einige der verlassenen Höfe wie Klaara-Manni, Linnamehe oder Põnka ist wieder Leben eingekehrt.

Sie machen sich rar, doch manchmal hat man beim Urlaub im Baltikum Glück und trifft auf einen Elch.

Carsten Heinke

Als Gästehäuser bieten sie nun rustikalen Urlaub mitten in der Wildnis – mit Sauna und Kamin und Gelegenheit zum Wandern, Paddeln oder Reiten. Wer echten Jugendstil – bequem zurechtgemacht – bevorzugt, wird an der Villa Ammende im nahen Pärnu seine Freude haben. Originalgetreu restauriert, glänzt das Nobelhotel sowohl mit einer prächtigen Hülle als auch mit üppigem Interieur. Als Estlands Ferienhauptstadt ist das Seebad Pärnu im Sommer gut gefüllt. Badenixen, Kur- und Wellnessgäste bevölkern sowohl Sandstrand als auch schlammgefüllte Wannen, bevor sie bei Beachparty oder Finnischem Tango die hellen Ostseenächte feiern.

Krater von Kaali auf Saaremaa

Beliebte Urlaubsziele sind auch Estlands Inseln. Mehr als 1.500 gibt es, die größte ist Saaremaa. Trutzige Burgen und protzige Herrensitze, Windmühlen und Wehrkirchen malen dem grünen Eiland zwischen Dünen, Wacholderwiesen und Kalksteinfeldern reizvolle Silhouetten. Ein Pilgerort nicht nur für Esoteriker ist der 110 Meter breite Krater von Kaali, den vor über 3.000 Jahren ein riesiger Eisenmeteorit formte und seither mit magischer Energie speisen soll. Zauberhafte Kraft und jede Menge Spaß und Lebenslust schöpfen die Esten wie alle Balten vor allem aus ihrer Nationalkultur, speziell beim Singen.

Krater Kaali auf Saaremaa in Estland

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Nicht zuletzt erträllerten alle drei Völker ihre Freiheit mit einer »Singenden Revolution« (1987/91). Liederfeste sind Mega-Events. Sowohl in Estland als auch in Litauen und Lettland finden sie in der Regel alle fünf Jahre statt. Mit Superchören von 30.000 und mehr Sängern zählen sie weltweit zu den größten ihrer Art. Seit 2005 sind sie Unesco-Weltkulturerbe. Nächster Termin: Tallinn, 5. bis 7. Juli 2019! Wer das Glück hat, zur Mittsommernacht im Baltikum zu sein, kann schon im kleinen Kreis erleben, wie cool es ist, wenn Leute aller Altersgruppen freiwillig, gemeinsam und begeistert singen.

Tallinn in Estland ist eine der schönsten erhaltenen Mittelalterstädte Europas.

Marie Tysiak

Tipps für einen Trip ins Baltikum

Anreise. Am schnellsten und bequemsten erreicht man die baltischen Hauptstädte per Flieger, z. B. mit Air Baltic oder Ryanair. Weiter vor Ort mit Mietwagen, Bus oder Fahrrad. Dank der vielen neuen Straßen (auch im Transitland Polen) ist ebenso der eigene Pkw eine gute Option. Dauert halt etwas länger (von Berlin: Vilnius 12 Stunden, Riga 14 Stunden, Tallinn 18 Stunden).

Übernachten. Große Bandbreite vom Luxus-Hotel bis zur urigen Landpension – zum Beispiel das Grand Palace am Schloss in Riga (5 Sterne, DZ mit Frühstück ab € 129), die Villa Ammende in Pärnu (4 Sterne, Standard Single Room ab € 69), das topmoderne Comfort Stay in Juodkrante, Kurische Nehrung (Apartment mit Balkon für bis zu 4 Personen für 2 Nächte ab € 138) oder der estnische Ferienbauernhof Piesta Kuusikaru (ganzes Haus, bei Zweierbelegung ab € 60)

Essen und trinken. Leckere kreative Gerichte aus regionalen Zutaten (auch nur vegetarisch) in gemütlich-stylischer Atmosphäre servieren etwa das Uoksas im litauischen Kaunas und das Restoran Spot in Tallinn. Lettische und internationale Küche genießt man im Bangert’s, Kuldıga, auf Ventas Rumba, den breitesten Wasserfall Europas.

Mehr Infos. Detaillierte Reisetipps gibt es im Netz bei den drei offiziellen Fremdenverkehrsämtern Litauens, Lettlands und Estlands.