Eine Bahnreise mit Interrail zu den Elitebrauereien in Europa verrät viel über die Bierkultur des Kontinents. Ganz nebenbei wird ein solcher Trip zu einer eindrucksvollen Entdeckungsreise durch die Vielfalt des Kontinents. Autor Ralf Johnen hat sich mit dem Interrail-Ticket 1. Klasse einen Jugendtraum erfüllt.
Rotterdam an einem Dienstag
Mit Geschichte und Tradition hat Rotterdam nichts am Hut. Dafür bekommt hier jede noch so abgefahrene Idee eine faire Chance. Das zeigt sich schon an der Empfangshalle des Bahnhofs: ein futuristischer Bau in Form eines verzogenen Bumerangs, dessen zinkverkleidete Fassade so dynamisch wirkt, als handele es sich um ein Terminal für bemannte Weltraumflüge. Wenig später entdecken wir würfelförmige Wohnhäuser und eine Markthalle, deren bewohnbare Außenwände schicke Appartements beherbergen. An den Ufern der Maas bewundern wir die Erasmusbrücke, deren eleganter Pylon Erinnerungen an einen Schwanenhals weckt. Dahinter: Wolkenkratzer und in der Ferne mit Containern beladene Ozeanriesen, Vorboten des größten Hafens Europas.
Nach der Stadtsafari wächst unsere Neugier, wie sich dieses Umfeld auf die Arbeit der örtlichen Braumeister auswirkt. Also überqueren wir die Maas, um die Fenix Food Factory aufzusuchen. Das angenehm abgerockte Etablissement ist in einer ausgemusterten Lagerhalle untergebracht, wo sich die Kaapse Brouwers angesiedelt haben. Das schummrige Lokal wird von Kerzen erleuchtet, in deren Schein wir den Hinweis auf eine Produktlinie namens »Kaapse Karloffs Experimental« entdecken. Wir ordern das »Kaapse Grettir«, das die Braumeister des Hauses gemeinsam mit einem isländischen Kollegen produziert haben. Zu den Ingredienzen gehört eine frühblühende Thymianart, die auch auf der subarktischen Insel gedeiht und die dem Bier eine Minznote verleiht.
Stunden später sitzen wir in der »Wunderbar«, einem Lokal, das mit allerlei Deutschlandzitaten überrascht. Während wir wie gebannt auf die Aktivitäten einer Kuckucksuhr starren und uns an einem örtlichen Weizenbier laben, resümieren wir: Offenbar färbt der Charakter einer Stadt auch auf ihre Gerstensäfte ab. Eine These, die wir mit auf unsere zweite Etappe nehmen.
Leuven an einem Mittwoch
Nach dem Frühstück sitzen wir im Zug nach Leuven. Die belgische Universitätsstadt mag übersichtlich sein, doch mit AB InBev hat hier der größte Brauereikonzern der Welt seinen Hauptsitz.
Zunächst aber wenden wir uns der historischen Altstadt zu, die schon im 15. Jahrhundert eine erste Blütezeit erlebte. Damals war Flandern eines der größten Handelszentren, was in beträchtlichem Reichtum resultierte. Aus dieser Epoche stammt das spätgotische Rathaus, das mit seiner schlanken Statur und seinen üppigen Ornamenten wie aus einem Film von Tim Burton gefallen scheint.
Doch Leuven besitzt auch eine schroffe Seite. Rund um das Viertel Tweewaters waren vor langer Zeit die Brauereien beheimatet. Dazu gehört auch Stella Artois, ein weithin bekanntes Bier nach Pilsener Brauart; einem Stil, der erst nach der Erfindung effizienter Kühlsysteme Ende des 19. Jahrhunderts seinen Siegeszug antreten konnte. Das 1926 lancierte Stella wurde so erfolgreich, dass sich der Mutterkonzern InBev 2008 den amerikanischen Marktführer Anheuser-Busch (»Budweiser«) einverleiben konnte. Der Besuch der Brauerei lehrt uns, dass wenig gegen ein frisch gezapftes Stella spricht.
Ein Besuch in der Kleinbrauerei auf dem Land
In Gedanken aber sind wir bereits bei unseren Leihfahrrädern, mit denen wir rund zehn Kilometer gen Norden fahren. Unser Ziel ist die Kleinbrauerei Hof ten Doormaal. Während draußen in den Feldern Kohorten von Rennradfahrern ihren Idolen nacheifern, weiht uns Braumeister Jef Janssens in die Geheimnisse des Familienbetriebs ein.
»Wir sind ein Bauernhof, und wir befinden uns genau in der richtigen Klimazone. Also bauen wir Hopfen und Malz selbst an.«
Ein Alleinstellungsmerkmal, das nach seiner Kenntnis kein anderer Betrieb aufweist. Hinzu kommt ein feines Händchen für traditionelle und experimentelle Biersorten. Zunächst kredenzt er mit dem »Zure van Tildonk« ein Lambiek, womit wir uns schon tief in den Feinheiten belgischer Braukunst befinden. Das Sauerbier kommt nämlich ohne Hefezufuhr aus, weil diese in der Region rund um Brüssel in der Luft enthalten ist. Dies löst eine spontane Vergärung aus. Es folgen ein cremiges Amber und ein Oak Aged Gin Donker, das mit seinen zwölf Prozent Alkohol vier Monate in einem ausgemusterten Ginfass gelegen hat. Genug für die Schlussfolgerung, dass ein großer Brauereistandort den kreativen Umgang mit den Ingredienzen beflügelt.
Nürnberg an einem Donnerstag
Von Experimentierfreudigkeit zeugt auch der Hauptbahnhof von Lüttich, wo wir in den ICE Richtung Frankfurt umsteigen. Der Spanier Santiago Calatrava hat den Bahnhof in den Adelsstand eines Instagram-Hotspots erhoben.
Nach ein paar geruhsamen Stunden erreichen wir am Nachmittag Nürnberg. Hier gilt bis heute offiziell ein kurioses Gesetz, das uns bei der Reiseplanung aufgefallen war: In der freundlichen fränkischen Metropole sind schwangere Frauen dazu verpflichtet, vier Liter Bier zu trinken – pro Tag. Die Regel stammt noch aus dem Mittelalter und ist ernährungsmäßig weniger bedenklich, als es heute klingt, denn das Trinkwasser war in Städten oft stark verschmutzt und Bier hatte lediglich zwei Prozent Alkohol.
Wie wir bei einem Rundgang durch die örtlichen Felsenkeller lernen, waren seinerzeit Dutzende Brauereien in der Stadt aktiv. Sie alle waren verpflichtet, für die Lagerung Kühlräume anzulegen. So konnte ein unterirdisches Labyrinth entstehen, dessen Eingang sich stilgerecht neben einem Gersten verarbeitenden Betrieb befindet: der Hausbrauerei Altstadthof. Das legendäre Bier überzeugt mit einer wunderbar rötlichen Farbe und einer ausgewogenen Aromapalette. Auch der größte Fan sollte sich nicht allein darauf beschränken, denn in Franken produziert man unzählige köstliche Biere, die aufgrund ihrer geringen Herstellungsmengen selbst bei Puristen als Craft Beer durchgehen.
Pilsen an einem Freitag
Restaurierte Patrizierhäuser mit verspielten Giebeln begrüßen uns im Zentrum von Pilsen. Die westböhmische Stadt hat sich fein herausgeputzt in den vergangenen Jahren. Doch am Stadtrand lebt weiterhin der ruppige Charme des Ostblocks. Hier steht auch jene Attraktion, die selbst für Besucher aus Übersee zu einem Zugpflaster geworden ist: die Brauerei von Pilsener Urquell. In den Katakomben können wir das Getränk vor der Filtrierung verkosten, was an der Gesamtdiagnose wenig ändert: Dieses Bier ist dank seines niedrigen Alkoholgehalts und des hohen Hopfenanteils ein guter Durstlöscher.
Wie wir in unserem abendlichen Domizil erfahren, beschränkt sich die Verwendung aber nicht nur hierauf. Vielmehr hat das Hotel Purkmistr das Gebräu zweckentfremdet: Das Spa des Hauses bietet ein Bad in einem warmen Gemisch aus Bier und Wasser an. Daneben steht ein Zapfhahn, aus dem eiskaltes Urquell strömt. Apart.
Ein Sonntag in den Schweizer Alpen
Aus logistischen (und gesundheitlichen) Gründen legen wir vor dem Höhepunkt des Trips einen reinen Reisetag ein. So stehen wir am Sonntagmittag am Bahnsteig von Chur. In der Hauptstadt des ost-schweizerischen Kantons Graubünden nehmen wir im Panoramawagen des Glacier Expresses Platz, wo sich sofort die Überzeugung einstellt, dass Bahnfahren die Krönung aller Mobilitätsformen ist. Gemächlich, elegant und sehr verlässlich bahnt sich der Zug seinen Weg durch die Bergwelten – nicht selten fernab jeder Straße.
In Andernach haben wir Gelegenheit, den Waggon zu verlassen. Doch nach der Überwindung des 2.033 Meter hohen Oberalppasses, des höchsten Punkts der Strecke, stehen wir in dickem Nebel. Wir trösten uns im Zug mit köstlichen Bündner Capuns, mit Spätzleteig gefüllte und heimischem Käse überbackene Mangoldblätter. Dazu ordern wir ein Zermatt-Bier mit dem Matterhorn auf dem Etikett. Es stammt aus der höchstgelegenen Brauerei Europas. Auf den Anblick des fotogenen Berges müssen wir indes bis zum Vormittag warten, denn wir treffen erst nach Einbruch der Dunkelheit in dem mondänen Ferienort ein. Es wird ein Anblick, der nostalgische Gefühle weckt und die guten, alten Zeiten des Reisens lebendig werden lässt. Wie eine Interrail-Tour durch Europa.
Infos zum Interrail durch Europa
Die Interrail-Tickets sind in verschiedenen Varianten für die 1. und 2. Klasse erhältlich. Los geht es bei vier frei wählbaren Reisetagen innerhalb eines Monats (€590 in der 1. Klasse., € 442 2. Klasse). Drei Monate ohne Reisebeschränkungen kosten € 2.404 (1. Klasse) bzw. € 1.624 (2. Klasse). Bei den Tickets mit limitierten Reisetagen muss der Verlauf der Reisetage jeweils zu Beginn von Hand eingetragen werden. Bei den meisten Hochgeschwindigkeitszügen (wie ICE oder Thalys), vielen Panoramazügen (wie dem Glacier Express) und einigen Nachtzügen (etwa den ÖBB Nightjets) müssen lediglich Zuschläge und Reservierungsgebühren bezahlt werden.