Einst verließ ein Volk seine Heimat, um ein neues Zuhause zu finden. Heute sind die Polynesier auf tausend Inseln verteilt – wir nennen es Südseeparadies.

Hielte man die Geschichte der Polynesier im Roman fest, käme dabei sicherlich ein Bestseller heraus. Von grandiosen Seefahrern wäre die Rede, von Entdeckern, von Stammeskriegen, von Riesen und Magie, von Kannibalismus und Eindringlingen, von Religion und Kunst und natürlich von der Liebe und der Untreue. Eine spannende Geschichte.

»Leider«, erzählt Joel Hart, Fremdenführer auf Tahiti, »müssen wir uns unsere eigene Geschichte erarbeiten.« Die Polynesier haben ihre Geschichte schlichtweg vergessen – all das, weil die Imperialmächte ihre Glaubensstifter schickten, die dann den Polynesiern verboten, ihre Kultur auszuleben. Dazu gehörten auch die Gesänge – die mündliche Überlieferung der Mythen und Götter, die teilweise Tausende von Zeilen lang waren. Hinzu kam, dass die »heidnischen Tempel« niedergerissen und auch polynesische Kunst­werke zerstört wurden.

Frauen aus Französisch-Polynesien tanzen in bunten Wickelröcken und lächeln

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Dass es noch schriftliche Zeugnisse über die Fertigkeiten und Kultur der Polynesier gibt, hat man den ausführlichen Beschreibungen der Entdecker zu verdanken. Allerdings haben diese wiederum nicht nur religiöse Lehrer herbeigeschworen, sondern ebenso Sklavenhändler, Abenteurer und Händler, die nach seltenen Fellen und Pflanzen Ausschau hielten, dabei aber eben auch todbringende Krankheiten einschleppten, gegen die die Einheimischen keine Immunabwehr besaßen.

»Dabei quälen uns heute viele Fragen. Es gibt mehrere Theorien, wo unsere genetischen Wurzeln liegen könnten, doch die meisten unterstützen eine These, die ich nicht glauben kann.«

Porträt eines jungen Polynesier mit typischer Kopfbedeckung

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Joel Hart will kein Asiate sein. Die häufigsten Theorien über die Besiedlung Polynesiens gehen davon aus, dass das Volk der sogenannten Protopolynesier, aus Südostasien stammt, höchstwahrscheinlich aus Taiwan, und nach und nach das »polynesische Dreieck« besiedelt hat. Dieses Dreieck umfasst eine Meeresfläche im Pazifik von etwa 50 Millionen Quadratkilometern. Hawaii bildet die nördliche Spitze des Dreiecks, Neuseeland die südwestliche und die Osterinseln die südöstliche.

Und mittendrin im Dreieck liegen Urlaubsparadiese, von denen wir alle geträumt haben, von denen wir aber eigentlich gar nichts wussten, was sie so unendlich reizvoll macht – Französisch-Polynesien beispielsweise mit den Inseln Tahiti, Moorea, Bora Bora und den faszinierenden Marquesas. Allein schon der Klang der Namen.

Die Cookinseln, Samoa, Tonga (übrigens die einzige Insel, die niemals eine Kolonie war), Pitcairn (wo sich die letzten Überlebenden der Bounty niederließen) und Tuvalu. Und auch außerhalb des Dreiecks liegen Inseln, die zum polynesischen Kulturkreis zählen, wie etwa Teile von Fidschi und Papua-Neuguinea. Joel Hart meint jedoch, und da ist er nicht der einzige Polynesier, der diese Meinung vertritt, dass seine Vorfahren aus Südamerika stammen, aber dazu später mehr.

Polynesier paddelt auf Boot vor Überwasser-Bungalows in der Südsee

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Kulturelle Wurzeln haben Bestand

Interessanterweise haben sich, trotz der großen Entfernung zwischen den Inseln und den Jahrtausenden an Entwicklung, die dazwischen liegen, viele der kulturellen Wurzeln der Protopolynesier nicht verändert. So ähneln sich die Sprachen der heutigen polynesischen Völker (insgesamt werden die Polynesier auf etwa eine Million Menschen geschätzt), beispielsweise benutzen alle das Wort »vaka« für »Kanu« – ein wichtiger Begriff für ein Volk, das sich dadurch auszeichnet, exzellente Seefahrer und Navigatoren hervorgebracht zu haben, die selbst größere Entfernungen im Ozean zielsicher zurücklegen konnten.

Auch der Gott des Meeres und der Fische, der bei den Māori als »Tangaroa« verehrt wird, findet sich mit ähnlichem Namen in den Mythen der anderen Inseln – so heißt er auf Hawaii »Kanaloa«, auf den Marquesas »Tana’ou« oder auf den Cookinseln »Tangroa«. Faszinierend – insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Polynesier kein geschriebenes Wort kannten. Sie überlieferten die Geschichte ihres Volkes mündlich und die Geschichte ihres Lebens meist anhand von Tätowierungen – auch eine der zahlreichen Gemeinsamkeiten, die fast alle Völker Polynesiens teilen.

Polynesier mit vielen Tattoos

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Jedes Zeichen der Tätowierung hat eine besondere Bedeutung – welche, »das wissen wir selbst nicht genau. Viele Erklärungen liegen auf der Hand, andere sind noch fraglich«, erklärt Joel Hart.

»Ich bin so froh, dass unsere Kultur eine Renaissance erlebt. Die Männer lassen sich wieder tätowieren, sie schnitzen wieder und kreieren Tikis.«

Thor Heyerdahl fand eines dieser Tikis, eine steinerne Statue auf der Insel Fatu Hiva, auf der er mit seiner Frau Liv zwischen 1937 und 1938 lebte. Er erfüllte sich mit dem einfachen Leben auf einer Insel einen Kindheitswunsch, dieses Ereignis wurde dann aber unfreiwillig die theoretische Basis für das Gefühl »kein Asiate« zu sein. Die Figur, die er auf dieser Insel fand, die übrigens zu den Marquesas (Französisch-Polynesien) gehört, erinnerte ihn an Funde aus Südamerika.

Segelboote vor der Küste der Insel Fatu Hiva, Französisch-Polynesien, in der Südsee

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Zudem lauschte er den Erzählungen der älteren Einheimischen, deren Mythen davon handelten, aus dem Osten gekommen zu sein. Diese zwei Indizien veranlassten ihn zu der Kon-Tiki-Expedition 1947, wobei er mit seinem Team in Südamerika aus Balsaholz (sowie anderen dort auffindbaren Hilfsmitteln) ein Floß baute, um damit den Pazifik nach Polynesien zu überqueren, was ihm auch gelang.

Seitdem geht eine Theorie von zwei Besiedlungswellen aus. Einer ersten aus Südamerika, westwärts nach Polynesien, wobei hier günstige Passatwinde sowie der Humboldtstrom zur Hilfe kamen. Die zweite Besiedlungswelle folgte dem Japanstrom von Südostasien aus nach Hawaii und von dort aus nach Polynesien.

Tahiti

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16 Kinder von 14 Frauen

»Aus den mündlichen Überlieferungen meiner Familie weiß ich, dass unser Volk vor einem großen Krieg fliehen musste.« Joel Hart wurde auf den Marquesas geboren und hat eine sehr große Familie. Allein sein Großvater hatte 13 Kinder, und wenn man Joel Glauben schenkt, hatte ein anderes Familienmitglied 16 Kinder von 14 Frauen.

»Ja, die Untreue ist ein großes Problem hier.«

Versammlung einheimischer Polynesien auf den Cookinseln

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Joel selbst, mittlerweile in den rüstigen 60ern, hat sich just von seiner 40 Jahre jüngeren Freundin getrennt. Eine ganz typische Verhaltensweise für einen Mann, der aus dem polynesischen Kulturkreis stammt, wo man sich als Bewohner einer kleinen Insel (oder gar mehrerer) den harten Bedingungen der Meere unterwerfen musste. Das brachte eine notwendige Flexibilität mit sich, wie eben die Promiskuität bzw. die Polygamie, ein wichtiger Bestandteil, um so den Stamm zu erhalten. »Heute bekommen die Frauen noch früh ihre Kinder«, erklärt Joel Hart, »auch das bezieht sich auf unseren kulturellen Hintergrund. Früher war es üblich, dass junge Frauen und Männer vor der Eheschließung viele sexuelle Beziehungen zu wechselnden Partnern hatten. Auch uneheliche Kinder sind dabei entstanden, die aber kein größeres Problem darstellten.« Eine Frau oder ein Mann, die/der die vorehelichen Erfahrungen nicht mitbrachte, galt als unattraktiv.

Junges Pärchen auf den Cook-Inseln sitzt in einem Restaurant und lächelt sich an

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»Viel haben uns die Kolonialherren nicht gelassen«, sagt Joel Hart Er selbst kommt aus der Familie eines Engländers, fühlt sich aber ganz als Polynesier.

»Und manchmal habe ich noch das Gefühl, als würden wir hier in Französisch-Polynesien unsere Wurzeln mit Füßen treten, ganz im Gegensatz zu Neuseeland. Dort wird versucht, alles wiederzubeleben. Das wünsche ich mir für diese Region auch.«

Maori bei einem Ritual auf Neuseeland, das denen der Polyester ähnelt

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Was ihn besonders stört, ist »der sinnlose Einfluss der neuen Welt«, wie die Installation des Kabelfernsehens auf den Marquesas. »Wer braucht so viele Kanäle? Und das genau dort, wo die alten Riten am lebendigsten sind.« Am selben Abend gibt es im Fernsehen eine Diskussion über die Unart der Menschen auf den Marquesas, jetzt den ganzen Tag in den Fernseher zu starren. Joel hat wohl Recht mit seiner Aussage, dass es »ein Kampf gegen Windmühlen sei, die alte Kultur am Leben zu halten«.