In Norfolk gibt das Meer, das täglich kommt und geht, sowohl den Rhythmus als auch das Tempo vor. Und weil die Nordsee und das Wetter keiner ändern kann, wurde in der Grafschaft ganz im Osten Mittelenglands die Gelassenheit erfunden. Der Höhepunkt des Kultes um die Seelenruhe wird in Congham zelebriert. Bei der jährlichen Weltmeisterschaft im Schneckenrennen. Text: Carsten Heinke
Da fahre ich ans Meer, und dann ist es gar nicht da. Stattdessen stehe ich vor einer nassen Fläche, auf der die Sonnenstrahlen so schön glitzern, dass ich gar nicht sauer auf die weggelaufene Nordsee bin. Hunstanton hat so viel schönes Wetter, dass es die Briten »Sunny Hunny« nennen. Es soll der einzige Ort an der englischen Ostküste sein, wo man die Sonne über dem Meer untergehen sehen kann. Auch das Tageslicht ist hier, wie ich gerade sehe, nicht zu verachten. Zusammen mit zwei Möwen spaziere ich durch flache Pfützen über feuchten, festen Sand. Hinter uns der Strand des kleinen Badeortes. Seine beiden hübschesten Gebäude sind der alte Leuchtturm und The Golden Lion, 1848 als Hotel Royal errichtet.
Ein Steinwurf neben dem flachen, viktorianischen Bauwerk beginnt die eigentliche Sehenswürdigkeit des einstmaligen Fischerdorfes: die bunten Kalksteinklippen von Hunstanton. Mit ihren braunen, roten und weißen Schichten, die gleichmäßig breite Streifen bilden, sehen sie von Weitem aus wie ein riesiges Stück Schinkenspeck. Andere erinnern die Farben an Honig, weshalb sie glauben, der Ort könnte früher einmal »Honeystone« geheißen haben.
Verbohrt sind nur die Würmer
Ein Traktor fährt am Horizont durchs Meer, im Schlepptau einen Jetski. Auf halber Strecke gräbt jemand den Meeresboden um. Wohin ich sehe: entspannte Unbesorgtheit. Die Möwen, die mich immer noch begleiten, wissen scheinbar, was der Typ mit seiner Gabel tut, denn sie gehen direkt auf ihn zu. Ich folge ihnen und lerne Andrew kennen.
Der Hobbyfischer buddelt nach verbohrten Würmern, die er als Angelköder mit nach Hause nehmen will. »Wenn man früh genug kommt, sind sie noch nicht tief«, weiß er, holt ein dickes Ringeltier nach dem anderen aus dem Schlamm und wirft sie in ein leeres Gurkenglas. Am nächsten Morgen will Andrew damit Barsche fangen. »Die stürzen sich auf alles, was zappelt«, verrät er mir. Kaum zu glauben, dass sich hier irgendetwas schnell bewegt. Mit scharfen Augen verfolgen die verfressenen Vögel jeden Handgriff des Mannes. Als genügend Würmer in seinem Glas wimmeln, spendiert er jedem einen. Als Vorschusslohn gewissermaßen. Denn ohne Möwenschwärme, denen er mit seinem Kutter folgt, würde Andrew weder Barsche noch Makrelen finden. Während Andrew am Tag darauf mit seinem Kutter in der Brancaster Bay in See sticht, gehe ich ein Stück weiter östlich, im Dörfchen Morston, an Bord.
Faule Säcke auf der Sandbank
Ziel meiner Kahnfahrt ist das Naturschutzgebiet rund um die Landzunge Blakeney Point. Über sechs Kilometer streckt sie sich parallel zur Küste in die Nordsee. Direkt daneben liegt das ausgedehnte Watt- und Marschland der Cley Marshes. Vorbei an Äckern und herrlich grünen Salzwiesen, hier von essbarem Meerfenchel gelb gefärbt, dort von lila Schatten des Strandflieders bedeckt, führt meine Route um die große Sand- und Kiesbank.
Bewohnt ist das Gebiet schon lange nicht mehr. Die einzigen Menschen, die hier zuweilen leben, sind die Ranger. Ihr Sommerquartier ist das blaue Lifeboat House, zugleich Besucherzentrum. Die letzten Reste eines alten Klosters sind längst im Moor versunken. Die Hafenbecken, die es einst schützten, verschwanden ab dem 17. Jahrhundert, indem man sie zu Weideland und Feldern machte – und unabsichtlich ebenso zum Schlaraffenland der Vögel und der Robben. Der Seewind bläst die Wolken hin und her. Zwischen ihnen blitzt der strahlend blaue Himmel. Tapfer hält das Bötchen Kurs und reitet über weiß bemützte Wellenhügel.
Mehr als ein Wimperzucken haben die Seehunde und Kegelrobben nicht für uns übrig
Da! Nach einer Düne, ganz am Zipfel Blakeney Points: Seehunde und Kegelrobben. Je nach Art, Geschlecht und Alter sind ihre Felle weiß bis grau und braun. Manche sind fast schwarz und alle irgendwie gefleckt. Allein an dieser Stelle sind es an die 100 Tiere.
Wie nasse, prall gefüllte Säcke liegen sie herum. Nicht einer rührt sich. »In der Ruhe liegt die Kraft«, meint Blake, der Skipper. Selbst als unser Boot ganz nah vorüberschaukelt, bewegen sich – vereinzelt nur – die Wimpern. Immerhin schenkt mir ein dicker Grunzer mit freundlich-rundem Schnurrbartgesicht einen Blick aus seinen großen schwarzen Augen.
Dass die gemischte Flossenträger-Wohngemeinschaft von Blakeney Point von Jahr zu Jahr mehr Mitbewohner zählt, liegt vor allem an den Kegelrobben. Mit bis zu 2,50 Meter Länge und 300 Kilo Gewicht sind sie doppelt so groß und schwer wie die Seehunde. Deren Zahl in Norfolk liegt seit zehn Jahren bei rund 3.000. Die der Kegelrobben ist im selben Zeitraum förmlich explodiert. Im letzten Winter wurden so viele geboren wie nie zuvor: 2.700 in Blakeney Point und 1.800 in Horsey Beach. Damit zählen die Norfolk-Kolonien zu den größten und am schnellsten wachsenden. Warum es den Tieren in Norfolk so gut geht, ist für Skipper Blake sonnenklar: »An unserer abgeschiedenen Küste ticken die Uhren etwas langsamer. Wir haben jede Menge Platz, viel Fisch, und alles läuft ruhig und entspannt. Das scheint auch den Robben zu gefallen.«
Auf der Schleimspur zum Salatpokal
Außergewöhnlichen Haustieren werde ich nun begegnen: Schnecken, die miteinander um die Wette rennen. Und zwar tun sie das nicht einfach nur aus Spaß, sondern bei einer richtigen Weltmeisterschaft, dem Snail Racing von Congham, zehn Kilometer entfernt von King’s Lynn. Ehrlich gesagt, fahre ich zweimal daran vorbei, bevor ich das Kricketfeld von Congham finde. Schließlich ist dessen Fläche genauso wie der ganze Ort nicht allzu groß. 2011 hatte er noch 241 menschliche Einwohner. Danach wurde offenbar nicht mehr gezählt.
Unbekannt sind außerdem sowohl das Gründungsjahr als auch der Grund des eigentümlichen Events. Auch die Zahl der Schnecken, die in Congham leben, kennt man nicht. Möglicherweise geht sie in den vierstelligen Bereich. »Denn jeder in Congham hat mehr als eine«, weiß Hilary Scase, die 84-jährige Pressesprecherin des Schneckenrennens. Anhänger des hochangesehenen Sports finden sich in allen Altersgruppen. Thomas Vincent etwa war neun, als seine Schnecke Schumacher siegte und er erklärte: »Nun habe ich mein Lebensziel erreicht.«
Dichtes Gedränge bei den Weichtierfreunden
Schon bevor der erste Startschuss fällt, ist der Rasen gut gefüllt. Nicht nur ganz Congham ist auf den Beinen. Auch aus den Nachbardörfern sind viele Weichtierfreunde erschienen. Besucher und Teilnehmer aus anderen Grafschaften werden bereits in der Kategorie »von weiter weg« erfasst. Dazu gehören – mit und ohne Schnecken – auch die internationalen Gäste: drei Chinesen, ein paar Schotten, ein Tscheche sowie jemand von den Weihnachtsinseln und mit mir insgesamt drei Deutsche.
Während Racing-Master Neil Riseborough und seine Assistentin die Wettkampfstätte vorbereiten, bilden sich an vielen Stellen Menschentrauben. Die Stars sind Herbie 2, der Sieger vom vergangenen Jahr, sein Eigentümer Colin Voss und dessen Familie, zu der neben zwei Erwachsenen und zwei Kindern auch zehn gefleckte Weinbergschnecken gehören. Überall, wo Laufteilnehmer mit ihren Herrchen oder Frauchen erscheinen, werden sie von Neugierigen umringt, gemustert und gestreichelt. Berührungsängste gibt es nicht. Vielen hat man bunte Flecken oder Kringel auf das eigentliche braune Schneckenhaus gemalt – zur Verschönerung und besseren Erkennbarkeit. Obendrein erhält jede Schnecke eine aufgeklebte Nummer. 135 sind es insgesamt.
Irgendwann geht sie dann endlich ab, die Schneckenpost
Die Arena ist ein runder Tisch. Darauf liegt ein weißes Tuch mit drei konzentrischen Kreisen. Der kleinste in der Mitte ist Start-, der äußerste die Ziellinie. Ihr Abstand beträgt 33 Zentimeter. Damit es richtig flutscht, wird die Streckendecke vor jeder Runde nassgemacht. Die Spannung steigt. Die ersten Läufer sind im Startfeld und ganz aus dem Häuschen. Einer rennt gleich los. Ein anderer rutscht aufgeregt auf seiner Schleimspur hin und her. Ein Schüchterner versteckt sich erst einmal in seiner eigenen Schale. Immer wieder muss der Wettkampfleiter Ausgangspositionen korrigieren. Als er alle 15 Teilnehmer korrekt zurechtgerückt hat, ruft Neil: »Ready, steady, slow!« – und ab geht die Schneckenpost.
Run, Larry, run! Die Hörner ausgefahren, den Kriechfuß von der Nase bis zur letzten Muskelspitze angespannt und durchgestreckt, ziehen sie sich und ihr Häuschen selber über den Tisch. Wie durch eine unsichtbare Macht gelenkt, streben tatsächlich alle Schnecken die äußere Linie kurz vor der Tischkante an. Na ja, zumindest die allermeisten und den größten Teil der Zeit. Da wird auch mal gewartet und verschnauft. Einige geben auf und kehren um.
Gewinnerzeit: 2 Minuten, 47 Sekunden
Dafür kämpfen die wahren Helden umso erbitterter. Stellt sich ihnen einer in den Weg, wird er einfach weggeschubst oder übergangen. Mancher schummelt auch und bleibt gleich oben sitzen – in der Hoffnung, dass es keiner merkt. Das Publikum tobt vor Begeisterung. Zahlreichen Vorentscheidungen folgt das spannende Finale. Gewinner ist die Schnecke Larry, die die 33 Zentimeter in traumhaften zwei Minuten 47 Sekunden bewältigte und den begehrten Sieger-Salatpokal errang.
Ihre Besitzerin ist Tara Beasley aus Castle Acre bei Swaffham. Die 41-jährige Hausfrau ist überrascht und überglücklich. Denn im Vergleich zu vielen Konkurrenten war Larry völlig untrainiert. Erst in der Nacht davor hatte sich Tara überlegt, am Rennen teilzunehmen, war in den Garten gegangen und Larry zum ersten Mal begegnet: »Er schien mir kräftig und beweglich zu sein. Ich nahm ihn mit ins Haus und setzte ihn auf eine Scheibe Gurke.«
Neil und die meisten anderen sind mit dem Rennen auch zufrieden. Nur ein paar wenigen wie Hilary war es dann doch nicht schnell genug. »Es gab zu viel Wind«, kommentiert sie nüchtern.
Den bisher ungebrochenen Weltrekord – glatte zwei Minuten – stellte 1995 die Schnecke Archie auf. Doch Titel und Trophäen hin oder her: Letzten Endes geht es um den Spaß und darum, sich nicht zur Schnecke machen zu lassen. Tempo ist sowieso sehr relativ in Norfolk. Denn in der Tat ist es der ideale Ort, die Langsamkeit zu entdecken. Am Abend sitze ich im Restaurant The Rose and Crown in Snettisham und kann mir nicht verkneifen, nach »L’escargot« zu fragen. Die Wirtin lacht und sagt: »Wir essen keine Schnecken. Wir lassen sie laufen.«
Tipps: Anreise, Übernachtung, Sightseeing-Touren
Anreisen. Flug nach London, vom Airport weiter in Richtung Nordosten/Nordseeküste per Mietwagen. Vom Flughafen London- Stansted bis nach King’s Lynn sind es etwa 1,5 Autostunden.
Schneckenrennen-Weltmeisterschaft. Die nächsten »World Snail Racing Championships« finden am 21. Juli 2018 auf dem Kricketfeld von Congham statt.
Schlafen und essen. Im alten Hansestädtchen King’s Lynn ist The Bank House (ein historisches Bankgebäude), im Dörfchen Snettisham das ländliche, doch moderne The Rose and Crown Hotel zu empfehlen. Beide Häuser haben auch sehr gute Restaurants.
Touren. Bootsausflüge zu den Robben und Vögeln von Blakeney Point gibt es bei Beans Boats. Start und Ziel ist Morston Quay. Erwachsene zahlen etwa € 13,50, Kinder bis 14 Jahre rund € 7. Der Badeort Hunstanton hat nicht nur hübsche Klippen und einen fotogenen alten Leuchtturm (der allerdings leider privat bewohnt wird und deshalb nicht zugänglich ist), sondern auch ein Meeresaquarium, das Sea Life Center, das zugleich eine Rettungsstation für Robbenkinder ist. Das idyllisch gelegene mittelalterliche Castle Rising Castle unweit von King’s Lynn wird heute nur von Geistern bewohnt. Tagsüber kann man die Ruine für € 5 besichtigen.
Informieren. Auskünfte gibt es beim Fremdenverkehrsamt Großbritannien.