Im Osttiroler Gailtal haben sie es nicht so mit dem Alpinski. Es geht gemütlich zu – im Winter wird gewandert oder man ist mit den Schneeschuhen unterwegs. Und manchmal ohne alles. Winterwandern in Osttirol in den Gailtaler Alpen.

Text: Verena Wolff

Verrückt muss sie sein, die Wanderführerin Barbara. Dabei sieht sie ganz harmlos aus: klein und drahtig, kurze dunkle Haare, ein fröhlich buntes Stirnband gegen die eisigen Temperaturen in Kartitsch in Osttirol. Eben noch hat sie in aller Ruhe eine Kiefer umarmt, die Stille auf der sonnigen Anhöhe über dem Ort genossen. Hat erzählt, wie die Bäume über Wurzeln und die Luft miteinander kommunizieren. Wie die hellgrünen Flechten, die über dem Kopf von den Ästen hängen, nur da wachsen, wo die Luft gut und die Umwelt gesund ist. Dass sie nur noch so hoch hängen, weil die Rehe und Hirsche alles, was niedriger wächst, als Delikatesse verspeisen. Am Boden finden sie im Winter nichts, denn der ist tief verschneit.

Gailtaler Alpen beim Winterwandern in Osttirol

Verena Wolff

Barfuß durch den Schnee

Und jetzt das. Sie greift in ihre große blaue Tasche, die sie seit Beginn der Schneeschuhwanderung über ihrer Schulter hängen hat. Teilt kleine weiße Handtücher aus und Sitzmatten aus Moosgummi. Und macht eine überraschende Ansage.

»So, jetzt ziehen wir Schuhe und Strümpfe aus und genießen einen kurzen Moment im Schnee!«

sagt sie und beginnt schon, die eigenen Wanderstiefel aufzuschnüren, während alle anderen noch über den Schock hinwegkommen.

Ja, die Sonne scheint hier auf gut 1.500 Metern Höhe. So stark, dass sie die Wolken und den Nebel verscheucht hat und der frische Schnee glitzert. Ein echtes Winterwunderland. Aber: Im Wunderland hat es zehn Grad minus. Auch noch gegen Mittag. Der Schnee dürfte nicht viel wärmer sein.

Wie wär’s denn mit dem Bergbach als Alternative, den wir entlang des Wegs nach oben zur Lichtung gesehen haben? Der fließt ja noch, muss also zumindest ein paar Grad über null haben. Nö. Zehen in den Schnee. Das ist der Plan. »Aber natürlich nur, wer will«, schiebt Barbara hinterher. Fast alle haben sich langsam an den Gedanken gewöhnt, die nach der Schneeschuhtour und dem Waldbaden gut durchbluteten Füße in den Schnee zu stellen. Die gleißende Sonne hilft. Vielleicht werden die Zehen ja schneller warm, wenn man sie später in die Sonne hält.

Schneeschuhe

Dakota Corbin

Unter der Wintersonne Osttirols

Nach und nach werden die Schnürsenkel entwirrt, die Socken in den Schuhen bereitgelegt. Damit es beim Anziehen schnell geht und die Strümpfe bloß nicht nass werden. Barbara rät, vor allem die trockene Matte und das Handtuch griffbereit zu haben, falls es dann doch kalt wird unter den Sohlen.

Aber, Überraschung! Es ist gar nicht so schlimm. Im Gegenteil, es ist sogar fast angenehm. Der Schnee ist herrlich fluffig, man kann die Füße so richtig darin vergraben. Der Boden darunter ist fest, also keine Gefahr auszurutschen. Und so spaziere ich dahin, in der dicken Skihose und dem warmen Anorak. Unter der Wintersonne Osttirols. Barfuß. Warum auch nicht?

Den Wald mit allen Sinnen genießen

»Waldbaden« nennt Barbara Uhl ihre Tour, Waldbaden, wie es die Japaner machen. Shinrin Yoku. Dort sogar auf Kosten der Krankenkasse. Auch in Deutschland und Österreich nehmen die Tourismusverbände dieses Angebot gerne in ihre Programme auf. Aber mit Bäumeumarmen hat das nicht viel zu tun. »Wir wollen den Wald mit allen Sinnen genießen«, sagt Barbara. Auch mit den Temperaturfühlern an den Zehenspitzen.

Schließlich heißt es: Schneeschuhe wieder anziehen und weiter geht die Wanderung zurück nach Kartitsch – ein kleines Dorf in Osttirol, wo das Leben noch so funktioniert wie vor langer Zeit. Der 850-Seelen-Ort am oberen Ende des Tiroler Gailtals liegt auf 1.353 Metern und ist Österreichs erstes zertifiziertes Winterwanderdorf. Neun Wanderwege sind von einer Expertenkommission ausgewählt worden und werden den Winter über gepflegt. Hier kann man nur mit Wanderstiefeln oder im tieferen Schnee mit Schneeschuhen gehen, die ebenso wie anderes Equipment in vielen Unterkünften verliehen werden. Leuchtend pinke Schilder weisen die Wege.

Waldbaden in Osttirol

Verena Wolff

St. Ostwald und sein Hausberg

Auf der anderen Seite des Dorfs, in St. Oswald, geht es auf den Dorfberg – immer entlang einer Langlaufloipe. Hier kann man sich die ersten Höhenmeter der insgesamt rund zehn Kilometer langen Strecke mit dem Einsatz von vielen Pferdestärken sparen. Simon fährt den silbernen Pistenbully, der mit schwarzen Lederbänken im Fond umgebaut wurde, um Wanderer zumindest an die Bergstation des Schlepplifts am Dorfberg zu bringen, auf 1.820 Meter Seehöhe.

Und dann geht’s los. Durch den Wald, in aller Stille. Nur das regelmäßige Atmen der Wanderer ist zu hören, der Nebel muss sich noch lichten. Die Haare verschwinden langsam unter einer Eishülle, die Feuchtigkeit in der Luft friert bei zweistelligen Minustemperaturen schnell fest. Aber immerhin: Die Wimpern frieren nicht ein und kleben nicht zusammen – so eisig ist es dann doch nicht.

Panoramablick auf 266 Gipfel jenseits der 3.000 Meter

Vom Wanderweg und, noch besser, vom Gipfel des Dorfbergs ist der Panoramablick grandios: 266 Dreitausender gibt es hier zu sehen, die Lienzer Dolomiten und die Karnischen Alpen. Italien ist von hier aus fast näher als der Rest Tirols, denn Osttirol liegt umrundet vom österreichischen Bundesland Kärnten wie eine Insel in den Bergen. Bei dieser Wanderung um den Dorfberg allerdings bleiben die Schuhe zu jeder Zeit an, hier sind Wanderstöcke mit breiten Tellern ein praktisches Accessoire – eine Flasche mit warmem Tee und eine Sonnenbrille im Rucksack sind auch keine schlechte Idee.

Das Wetter in den Bergen wechselt schnell. Und am Ende der Tour wartet der Klammerwirt mit einer warmen Suppe, einer Brettljause und vielen Informationen über die Täler.

Gemütlich ist es in Osttirol, wo Bettenburgen und Après-Ski-Bars Fremdwörter sind. Die großen Alpin-Skigebiete hatten sie hier ohnehin noch nie, also haben sie sich auf das konzentriert, was sie so richtig gut können. Wandern, Langlauf, Tourenski. Nachhaltigkeit. Gemütlich ist es geblieben und übersichtlich, zwischen den Bergen, aber nicht hinter dem Mond. Vieles ist noch so, wie es vor 100 Jahren schon war, erzählt Nachtwächter Josef Lugger in Obertilliach. Dreimal die Woche geht er mit Gästen durch den kleinen Ort, der wegen seiner Gebäude früher »das hölzerne Dorf« genannt wurde – und über die Jahrhunderte weitestgehend abgeschirmt war. Katholisch musste Frau sein, um in einer der Bauernfamilien einheiraten zu können und wenn sie aus dem nächsten Dorf oder gar dem nächsten Tal kam, gab es schon größere Verständigungsprobleme.

Dorfberg Shuttle in den Gailtaler Alpen

Verena Wolff

In den Gailtaler Alpen scheint die Zeit in bisschen stehengeblieben

Ganz so ist es heute nicht mehr, aber viele Osttiroler sind ihrer Heimat treu – oder sie kommen zurück, nachdem sie in die weite Welt ausgezogen sind. Oder zumindest nach Innsbruck oder Salzburg. Und machen moderne Dinge in der traditionellen Umgebung. Sicher ist: Sie sind sich dessen bewusst, was sie haben. Franz Strasser ist so einer, ihm gehört das Hotel Waldruhe in vierter Generation. Er hat umgebaut, angebaut, modernisiert. Lässig, alpenchic, viel Holz und Filz.

Und zu besonderen Anlässen steht die 93 Jahre alte Oma noch in der Küche und bereitet einen einheimischen Schmaus zu: Schlutzkrapfen. Das kann einfach niemand so gut wie sie. Diese mit Käse gefüllten Nudelkreationen, die in warmer Butter schwimmen und mit noch mehr Käse bestreut sind, sind genau das Richtige, um nach dem Bäumeumarmen, dem Füßerunterkühlen und einer gechillten Meditation am Flussbett wieder auf Betriebstemperatur zu kommen, bis in die kleinen Zehen.

Schlutzkrapfen bei einem Urlaub in den Gailtaler Alpen

Verena Wolff

Zum Abschluss darf’s ein Pregler sein

Danach gibt es, ebenfalls aus der Region und vielfach prämiert, einen Pregler – Hochprozentiges aus Äpfeln, Birnen und Zwetschgen. Und dann könnte man wieder aufbrechen, zu einer weiteren Winterwanderung oder einem Spaziergang durch das Dorf. Das kann man aber auch lassen. Und kuschelt sich auf eines der Filzsofas, um die Stille zu genießen.

Mehr Infos zu den Gailtaler Alpen und Winterwandern in Osttirol

Das Gailtal liegt in Osttirol, das vom österreichischen Bundesland Kärnten und Italien umschlossen wird.

Anreise. Von München mit dem Eurocity nach Spittal-Millstättersee, dann weiter nach Lienz. Mit dem Auto entweder über Innsbruck, dem Brenner und dann durch Südtirol oder von Kitzbühel aus nach Kartitsch.

Übernachten. Stylish und gleichzeitg heimelig: Hotel Waldruhe in Kartitsch.

Ausrüstung. Schneeschuhe, Langlaufski und Stöcke kann man sich im Hotel oder in Sportgeschäften ausleihen.

Der Tourismusverband Osttirol liefert weitere Infos zu den Gailtaler Alpen und Winterwandern in Osstirol.

Schild fürs Winterwandern in Osttirol

Verena Wolff