Im Herzen Europas, an den idyllischen Hängen der Alpen, scheint die Zeit seit Jahrhunderten im gleichen, stetig ruhigen Rhythmus zu schlagen. Die Menschen, die hier leben, schätzen ihre Nähe zur Natur ebenso wie ihre Traditionen. Gehört die Schweiz deshalb zu den glücklichsten Ländern der Welt? Redakteurin Marie Tysiak war zu Besuch im Berner Oberland – denn mehr Schweiz geht nicht.

Es ähnelt einer Zeitreise. Nur der Jeep, der über die grüne Wiese holpert, verweist auf das 21. Jahrhundert. Am Steuer sitzt Sennerin Bernadette Brunner, hübsche Edelweiß-Bluse, eine dunkle, praktische Kurzhaarfrisur, freundliche Augen hinter einer randlosen Brille, fleißige Hände, die mühelos das Gefährt bergab zur Alp Heubühlen lenken. Die Alm ist für 120 Tage im Jahr ihr Zuhause, gemeinsam mit ihrem Mann Roland und den beiden erwachsenen Kindern. Und Gästen, die hier jeglichem Stress der Moderne entfliehen.

Die Alp Heubühlen im Berner Oberland ist ein wahrer Geheimtipp für alle, die das Glück im simplen Leben suchen.

Marie Tysiak

Es ist früh, meiner Meinung nach etwas zu früh, aber nun gut. Der Tau glitzert noch frisch und wunderschön auf der Wiese, als wir hinter dem Haus Halt machen. Es ist Juni, Wildblumen blitzen zart zwischen den Gräsern hervor. Im Tal hängt Nebel, doch die Sonne ist schon hoch genug geklettert, dass ihre ersten Strahlen über die Bergkämme mein Gesicht erwärmen.

Willkommen auf der Alp Heubühlen, wo die Welt noch in Ordnung scheint.

Marie Tysiak

Schöne Ausblicke über das Berner Oberland

Ich beneide Bernadette um den wunderschönen Ausblick, der sich vor ihrem saisonalen Zuhause ausbreitet. Habkern, samt seiner gut 600 Bewohner, liegt in einem Seitental nördlich von Interlaken, umgeben von (noch) schneebedeckten Bergen. Nach Norden hin versperren Gipfel und geschützte Moore die Weiterreise. Habkern im Berner Oberland versteckt sich also quasi in einer Sackgasse. In dieses Tal kommt man nicht zufällig.

Der Blick von Habkerm mach Interlaken am Thuners ist traumhaft.

Marie Tysiak

Die Alm von Familie Brenner thront auf 1.331 Metern über dem Dorfkern, in gut einer Stunde Wanderung von ebendiesem erreichbar – doch Bernadette war heute früh so nett, mich abzuholen. Sie bittet mich in die gute Stube, und ich löse meinen Blick von den Bergen. Über dem Eingang zur Alm hängen unzählige Kuhglocken, manche kopfgroß und so schwer, dass ich sie nicht alleine tragen könnte.

Spiel mir deine Glocke und ich weiß wer hier muht.

Marie Tysiak

In sympathischem und doch verständlichen Schwizerdütsch erzählt Bernadette, dass schon der Großvater ihres Mannes Senner war und 50 Sommer auf der Alm verbrachte. Jeden Juni treiben sie ihre Kühe hoch, im September endet die Almsaison mit dem spektakulären Almabtrieb.

»Jede Kuh hat eine eigene Glocke, manche größer, manche kleiner. So hat jedes Tier auch seinen persönlichen Klang, an dem sie sich gegenseitig erkennen. Sie sind stolz auf ihren Ton – die Kuh, die jedes Jahr mit einer großen Glocke den Almabtrieb anführt, wird besonders respektiert«

erklärt sie und zeigt auf die größten Glocken über mir. Jetzt erkenne ich auch die eingravierten Jahreszahlen. »Roland verbringt dieses Jahr seinen 26. Sommer hier«, fügt sie hinzu und betritt die Alm.

Bernadette arbeite die Sommer hart auf der Alm.

Marie Tysiak

Ein Leben auf der Alm

Da steht ihr Ehemann auch schon im Halbdunklen. Der kleine, kräftige Mittvierziger, der durch die breite, bodenlange Schürze noch etwas kleiner wirkt, beugt sich über einen gigantischen Kupferkessel und rührt mit einem hölzernen Stab darin herum. Ein kleines Feuer erhitzt die Milch im Kessel.

»Gruezi.«

Roland nickt mir zu. Jeden Morgen und jeden Abend werden die 14 Kühe gemolken, etwa 50 Liter Milch gibt jede einzelne am Tag – knapp 700 Liter Milch melkt Familie Brunner also am Tag! Jeden Morgen wird gleich danach mit den frischen Erzeugnissen Käse gemacht.

Hoch oben in den Bergen der Schweiz geht es ganz schön offroad zu!

Marie Tysiak

Roland erhitzt die Milch auf 32 Grad Celsius über dem Feuer, dann kommen spezielle Bakterien und Lab (ein Enzym, das jungen Milchkühen entnommen wird) dazu. Und jetzt wird eben kräftig gerührt, bevor Roland mit einem Tuch durch die Milch siebt, um so die bereits entstandenen Feststoffe abzusondern. Bernadette füllt diese in kleine, runde Behälter, durch Löcher drückt sie die letzte Flüssigkeit heraus.

Roland macht auf der Alp Heubühlen im Berner Oberland eigens Käse.

Marie Tysiak

In einer Minute, so kommt es mir vor, hat das Ehepaar einen hohen Stapel solcher »Bruch«, wie Bernadette währenddessen die ganze Zeit fleißig erklärt, gewonnen. »Ist wie Hirtenkäse«, sagt sie und reicht mir ein Stück. Es schmeckt frisch – doch ohne viel Geschmack. »Deswegen tun wir jetzt noch Knoblauch oder Chili dazu, und ein paar Bergkräuter«, während sie bereits fünf Käselaibe gewürzt hat. »Und die lagern wir jetzt für zwei Monate in unserem Käseschuppen, bis sie gereift sind. Dann haben wir köstlichen Senner Bergkäse. Schick ich dir dann, wenn er fertig ist.«

Frisches gleich von der Alm.

Marie Tysiak

Alles Käse, oder was?

Jeder darf sich bei der Käsezubereitung ausprobieren – oder einfach zum Entspannen herkommen. Doch das schließt sich ja nicht unbedingt aus. Es kommen immer wieder Gäste auf die Alm im Berner Oberland, die einige Wochen im Sommer hier verbringen. »Die mähen den Rasen oder helfen beim Melken. Man muss sie ja auch irgendwie beschäftigen. Um acht Uhr gehen wir alle platt schlafen, fast jeden Tag«, erzählt Bernadette weiter. Mittlerweile haben wir auf den Holzbänken vor der Alm Platz genommen. Während ich meinen Morgenkaffee in der nun knallheißen Sonne schlürfe, erzählt Bernadette weiter von ihrem Leben auf der Alm – und hat in der Zwischenzeit parallel ein Pfund Kartoffeln gerieben, die gleich als Rösti auf den Tisch kommen.

»Aus den Produkten der Natur lässt sich schon was Feines machen!«

lacht sie mit Blick auf den Berg geriebener Kartoffeln. »Magst du was essen?«

Käse machen: Im Berner Oberland werden Traditionen fortgeführt.

Marie Tysiak

Kurze Zeit später ist der Frühstückstisch reich gedeckt. Eigens geräucherte Wurst, ein Dutzend verschiedener Käsesorten aus eigener Herstellung, selbst gebackenes Brot samt frischer Butter. Roland streift seine Schürze ab und setzt sich dazu. Mit einem Wink auf den Käse meint er: »Jeden Tag Käse, das gibt schon Kraft.«

Willkommen im Moor in Hackern in der Schweiz.

Marie Tysiak

Erst jetzt sehe ich den Mann richtig, es war so dunkel in der Alm. Seine blauen Augen leuchten, wie ich es selten bei jemandem gesehen haben. Der kleine Körper strotzt vor Kraft und Taten, ohne dabei besonders muskulös zu wirken, der blonde Schopf verleiht ihm ein fast jugendliches Antlitz. Im Winter arbeitet er als Skilehrer, dann machen sie die Alm komplett zu.

»Aber ich könnte auch das ganze Jahr dieses einfache Leben genießen, einen Hüttenkoller hat hier noch niemand gehabt«, schwitzertüütscht er.

Eine Kuh muht zustimmend und klingelt mit ihrer Glocke. Er lächelt, als wüsste er genau, welche seiner Almkühe sich zu Wort gemeldet hat.

Der Blick von der Alm lädt zum Träumen ein.

Marie Tysiak

Natur pur im Berner Oberland

Von den wenigen (menschlichen) Einwohnern Habkerns im Berner Oberland kenne ich am Nachmittag einige weitere. Nachdem Ranger Lukas Schärer mich bei Kaiserwetter durch die wunderschöne Alpenlandschaft der Hochmoore von Habkern rund um die Lombachalm geführt hat, sitze ich jetzt, wieder zurück im beschaulichen Dorfkern, bei Heinz Tschiemer in der Werkstatt.

Der Bär bleibt das Symbol der Schweiz.

Marie Tysiak

Der junge Familienvater ist Alphornbauer – das Nationalsymbol der Schweiz. Seine Manufaktur »Bernatone« ist eine von 23 im Land, doch nur wenige können davon leben. In Habkern ist das anders, in dem Betrieb – wie so oft im Ort – scheint die ganze Familie beschäftigt zu sein. Heinz‘ Vater Hans Tschiemer hat eine Sägerei und besorgt das Holz. Sohn Heinz baut mit Frau Marietta die Instrumente, sogar die Kinder helfen gerne mit. Seit 2012 finanziert sich Familie Tschiemer alleinig vom Alphornbau.

Der Alphornbau erfreut sich im kleinen Dorf Hackern im Berner Oberland besonderer Tradition.

Marie Tysiak

Traditionsinstrument Alphorn

Von Heinz erfahre ich viel über das Traditionsinstrument. Zum Beispiel, dass es eigentlich gar nicht als Instrument gedacht war, sondern von den Alphirten seit Jahrhunderten dafür benutzt wurde, die Kühe von den Almwiesen anzulocken, und auch, um jemandem auf der anderen Talseite über eine Art Telefon etwas mitzuteilen. Erst später wurde es zum Instrument, geriet dann in Vergessenheit.

Stars der Volksmusik: Wo Alphornspieler Volksstars sind.

Marie Tysiak

Doch in der Schweiz versuchte man früh, sich seine Traditionen zu bewahren, und mit dem regelmäßig stattfindenden Alphirtenfesten erhielt das Alphorn wieder Ruhm und ist seit 1910 fest als Schweizer Kulturgut verankert. In Jodelvereinen treffen sich die Musiker, um zusammen und in Tracht ihrer Tradition zu frönen. Doch diese Kultur streut weit über die Landesgrenzen hinaus: Ein Drittel der Alphörner verkauft Heinz ins Ausland, vorrangig nach Deutschland (v. a. Bayern), auch nach Asien und Nordamerika werden seine Instrumente geliefert.

Das Alphorn ist ein Instrument mit Tradition in der Schweiz.

Marie Tysiak

Ich streife durch die geräumige Werkstatt, runde Holzbögen verharren zwischen eigentümlichen Geräten eingespannt, Sägespäne liegen auf dem dunklen Boden.

»Jedem Alphorn widme ich eine Woche meines Lebens«, erläutert Heinz.

Etwa 50 Stunden Arbeit stecken in jedem Horn, ohne die Maschinen waren es früher sogar 100. »Das Leben in Habkern ist mühsam, hat aber eine hohe Lebensqualität. Hier hat auch die Alphornbauerei eine lange Tradition. Die Fichten, die hier wachsen, sind besonders weich und leicht. Das ist wichtig für die Schwingung. Eigentlich alle Klanginstrumente wie Geigen, Gitarren oder Flügel sind aus dem Holz der Fichte gefertigt. Man bedient sich gern der krummen Fichten am Hang, die durch die Schneemassen schon die perfekte Form haben«, führt er fort.

In einem Seitental versteckt sich das schöne Dorf Hackern.

Marie Tysiak

Ein Stück Fichte schreibt Geschichte

»Doch heute machen wir das Alphorn nicht mehr nur aus einem Stück Holz, das ist auch sehr unpraktisch für den Transport. Mittlerweile setzen wir es sogar aus drei Stücken zusammen. So kann ein Stamm Material für bis zu sechs Instrumente liefern.« Heinz zeigt mir die verschiedenen Stadien der Herstellung. Meine Finger streichen über das weiche, unbehandelte Holz eines noch unfertigen Becherstücks – der große Trichter, aus dem der Ton kommt.

Im Berner Oberland haben Alphörner eine lange Tradition.

Marie Tysiak

Vorne im Laden werden die aktuellen Schmuckstücke präsentiert. Heinz nimmt ein Mundstück aus der Kiste, setzt es auf eines der schönen Instrumente. Und pustet. Ein tiefer, warmer Ton erfüllt den Raum. Nach einer Ewigkeit verebbt der Klang, Heinz setzt einen weitaus höheren Ton an, eine Melodie entsteht. Als die letzten magischen Schwingungen abgeklungen sind, kann ich nicht anders, als spontan zu applaudieren. »Du schaffst das auch, selbst mein zweijähriger Sohn kann das.« Mit einem frischen Mundstück versuche ich also, zumindest einen der zwölf möglichen Töne durch das Vibrieren meiner Lippen zu erzeugen. Ein gequälter Klang kommt aus dem drei Meter vierzig langen Traditionsinstrument, doch schon der zweite Versuch klingt fast wie Musik.

Einmal ein Alphornspieler, immer ein Alphornspieler.

Marie Tysiak

Willie gibt ein spontanes Dorfkonzert

Als wären diese Töne sein Lockruf, öffnet ein älterer Herr die Tür. Willie, wie er sogleich vorgestellt wird, ist alteingesessener Alphornspieler. Ganz begeistert von den neugierigen Besuchern, kommt er zwei Minuten später mit seinem eigenen, schmuckvoll bemalten Instrument wieder. Mit seiner Mutzle, einer traditionellen Weste für Alphornbläser, spielt er uns ein Ständchen. Als sich die Schaulustigen vor dem Ladenfenster vermehren, verlagert er das Konzert spontan auf den Dorfplatz, der gleich vor der Werkstatt liegt. Feinste Bergkulisse, die durch die mittlerweile tief stehende Sonne golden leuchten, ein strahlender Willie und der warme Klang der Fichte – manchmal liegt das Glück eben in den simplen Dingen.

Die Berge im Berner Oberland in der Schweiz sind im Frühjahr besonders magisch.

Marie Tysiak

Nachtrag: Drei Monate später trudelte der Käse von der Alp Heubühlen bei mir zu Hause in Köln ein. Ein Gedicht. Ja, aus der Natur lässt sich schon was Feines machen. Danke dafür, liebe Familie Brunner! Vielleicht schaue ich nächsten Sommer wieder vorbei, dann aber für länger!

Wo der Käse am besten schmeckt: zu Besuch auf der Alm in der Schweiz.

Marie Tysiak

Infos zum Berner Oberland

Alb Heubmühlen. Die Alb Heubmühlen hat jeden Sommer von Juni bis September geöffnet.

Bernatone Alphornbau. Direkt am Dorfplatz von Habkern liegt die Alphorn-Werkstatt von Hans Tschiemer. Werksführungen sind möglich und bieten eine tollen Einblick in das Traditionsinstrument.

Mehr Infos über Habkern findet ihr hier.

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Habkern liegt versteckt in einem Seitental des Berner Oberlandes.

Marie Tysiak