Es ist ein Land zwischen den Zeiten. Behaftet in alten Idealen mit dem Fortschritt neuer Hoffnungen. Als Reisender pendelt man emotional zwischen Chaos und Pracht. Zwischen Bleiben und Gehen. Und diese Mischung bezaubert unsere Autoren so sehr, dass alle sechs sich einig sind: Indien ist großartig, atemberaubend, bunt und immer wieder eine Offenbarung für die hungrige Reiseseele.
Das perfekte Foto: Taj Mahal
Menschen, die versuchen, das Taj Mahal bei seinem Zipfel zu greifen – zumindest für ein Erinnerungs-Spaßfoto – wird es den ganzen Tag über zu Tausenden geben. Fast ist ein Foto derjenigen Besucher, die krampfhaft versuchen, das Unesco-Weltkulturerbe in ihr Bild zu integrieren, das authentische Foto unserer Zeit. Irgendwie entfremdend, gleichzeitig jedoch auch erfrischend schön.
Denn es zeigt die Freude, das Erstaunen und die simple Wonne, die die Menschen empfinden, wenn sie vor dem Taj Mahal stehen. Dem Sinnbild Indiens. Selbst das Bild der Menschenmassen, die sich in ihren farbprächtigen Saris auf das weiß strahlende Bauwerk zubewegen, ist zauberhaft.
Wer wie ich das Gebäude am liebsten für sich hätte, ohne auch nur eine Menschenseele, die einem vor die Linse hopst, kann seine Hoffnungen just begraben. Dies ist wirklich ein auswegloses Unterfangen. Die beste Aussicht garantiert der frühe Morgen. Dann, wenn der Morgennebel das Mausoleum umhüllt, als würde er es zur Ruhe betten. So wie einst Erbauer Großmogul Shah Jahan dort seine große Liebe Mumtaz Mahal zu Grabe trug. Es muss eine gewaltige Liebe gewesen sein, wenn man das Ausmaß des Gebäudes betrachtet und die Mühe, die es kostete, es im 17. Jahrhundert zu erbauen. 1.000 Elefanten und 20.000 Handwerker haben ihren Beitrag geleistet, damit ich in den frühsten Morgenstunden diese wundervolle Aura mit nur wenigen anderen erleben darf.
Um sieben Uhr am Morgen öffnet das große Tor seine Pforten. Pflicht ist es jedoch, sich schon etwa 40 Minuten davor anzustellen. Indien wäre nicht Indien, wenn es nicht jemanden gäbe, der sich für einen Obolus als Platzhalter in die Schlange stellt und mit dem man kurz vor dem Öffnen der Tore den Platz wechselt, um dann als einer der Ersten vor dem schimmernd weißen Meisterwerk zu stehen und schnell den Auslöser zu betätigen. Und selbst dann, zwischen Konzentration und dem Wunsch, das perfekten Bild zu erschaffen, verspürt man den Zauber des Taj Mahal. Wie es Spuren in der Seele hinterlässt. So wunderschön, dass es einem den Atem verschlägt. (Jennifer Latuperisa-Andresen)
Gleiten auf dem Dach der Welt: Kashmir-Tal
Langsam plätschert mein Boot über die blau schimmernde Wasseroberfläche, transportiert mich sacht auf die majestätische Hügelkette mit ihren weißen Wolkentürmen zu. Auf dem glatten Dal-See spiegelt sich das Panorama als Zwilling wider, wie auf einem blau schimmernden Aquarell wächst die Landschaft auf mich zu. Ich fahre mitten hinein in die Spitzen und die Bärte aus Zuckerwatte, gleite über das Dach der Welt. Es sind solche Bilder, die einen Besuch im Kashmir-Tal unvergesslich machen.
Fast zwei Jahrzehnte musste ich warten und mehrfach durch Indien reisen, um endlich den Schlüssel für das Schatzkästchen im Norden in die Finger zu bekommen. Kashmir, zauberhaftes Ziel der asienreisenden Hippies seit den 1960er-Jahren, war für mich als Spätgeborenen Krisenregion und Kriegsgebiet. Erst Anfang der 2010er-Jahre nahmen die Besucherströme wieder langsam zu, und auch ich erfüllte mir den Jugendtraum. Und wurde belohnt, doppelt und dreifach. Rund um die Stadt Srina gar blüht ein üppiges grünes Paradies mit Getreidefeldern, Obstgärten, saftigen Wiesen und ehrwürdigen Baumriesen, umschlossen vom ewigen Gebirge.
Dazwischen hat sich eine zauberhafte Metropole erhalten, die verführt mit geschachtelten, pittoresken Holz- und Steinhäusern, fragilen Brücken über breiten Kanälen und vor allem der Gastfreundschaft ihrer Bewohner. Doch das Herz schlägt auf dem Wasser. Nebeneinander ankern hier die Hausboote auf dem großen Dal- und dem kleineren Nagin-See. In vielen haben einst die britischen Besatzer logiert, heute genießen die Touristen an Deck die einmalige Ruhe. Die Randbezirke der Stadt sind durchzogen von zahllosen Kanälen, an deren Ufern die Einheimischen ihre wassergetränkten Felder bestellen. Hier muss man gar nicht sein Boot verlassen, um den Kashmiris in ihren Eierschalen am frühen Morgen beim Gemüsemarkt zuzuschauen. Oder man fährt zum Sonnenuntergang noch einmal auf Shopping-Tour durch die Ladenzeile, die direkt am Wasser liegt. Für mich hat sich das Warten auf das Schatzkästchen gelohnt. (Markus Grenz)
Sichere Bank: Taj Mahal Palace in Mumbai
Es ist hübsch anzusehen – mit filigranem Blümchenmuster, das hier und da etwas abgenutzt ist. Sein haselnussbraunes Holz glänzt mit dem Teeservice um die Wette. Für uns Gäste ist es lediglich ein bankähnliches Sofa. Für die jungen Inder, die darauf Platz nehmen, bedeutet es die Zukunft. Der eine lebensentscheidende Moment – in unserer Gesellschaft passiert er zufällig. In Indien wird er noch immer gerne arrangiert. Das Lucky Sofa in der Sea Lounge des Taj Mahal Palace in Mumbai ist ein Ehestifter. Hier findet das erste Kennenlernen statt – seit rund 100 Jahren. Des einen Glück, des anderen Leid: Springt der Funke über? Oder eben nicht.
Allerdings soll das Lucky Sofa zumindest Glück für die Ehe bringen, wenn sich das Brautpaar samt dem engen Familienkreis zur Tea Time einfindet und das zukünftige Paar auf dem Sofa erste Blicke und Worte austauscht.
Der Gedanke schnürt mir ein wenig die Kehle zu. Die arrangierte Liebe scheint mir als Europäerin falsch und erzwungen. Dennoch ist es eine andere Auffassung von Liebe, über die man hier in der Sea Lounge zufällig stolpert. Eine Liebe, die weniger mit einem großen Knall beginnt, sondern mit der Zeit wächst. Große Gefühle zählen weniger als ein verlässliches Arrangement für die Zukunft. Falsch oder richtig? Schwierig zu sagen. Fest steht: Dieses kleine Sofa hat eine große kulturelle Bedeutung. Das Taj Mahal Palace selbst ist eine Legende.
Jamshedji Tata, der Gründer des bekannten indischen Tata-Konzerns, war so erbost darüber, dass die Kolonialherren ihm den Zutritt zu einem britischen Luxushotel im damaligen Bombay versagten, dass er beschloss, das größte und eleganteste Hotel des Subkontinents zu bauen. Gesagt, getan: Das Taj Mahal Palace wurde 1903 eröffnet und entwickelte sich schnell zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens im heutigen Mumbai. Die große alte Dame der Hotellerie hat trotz herber Rückschläge wie den Terroran schlä gen im November 2008 niemals den Mythos sterben lassen und wurde 2010 vollständig wiederöffnet. (Ulrike Klaas)
Indiens Autobahn: Rajasthan
In Rajasthan hatten wir eine anstrengende Tagesreise vor uns: Mit dem Kleinbus ging es von Jaipur nach Udaipur. »Geht schnell«, rief uns noch der Hotelmanager in Jaipur launig hinterher, als wir ganz entspannt in unserem Mini-Bus Platz nahmen. Schnell war leicht untertrieben. Der Fahrer schien sich tags zuvor bei der TV-Übertragung des Formel-1-Rennens inspiriert gefühlt zu haben. Er jagte jedenfalls über die Schotterpiste, als wäre der Teufel hinter ihm her. Und ja, Schotterpiste. Die rund 420 Kilometer lange Strecke von Jaipur nach Udaipur führte über Straßen, die noch nie etwas von Asphalt gehört zu haben scheinen. Aber das scherte unseren Fahrer wenig; vermutlich wollte er seine persönliche Bestzeit toppen und dachte sich, dass diese No-Tempolimit-auf-Autobahn-Deutschen sicherlich ganz entzückt von seiner Fahrkunst sein werden.
Kurz vor Udaipur stand mein Herz gar für einen Moment still: Wieder setzte er zu einem waghalsigen Überholmanöver vor einer Kurve an. Dieses Mal hatten wir kein Glück, ein Kleinwagen von der Größe eines Fiat Puntos tauchte auf der Gegenseite auf. Das beeindruckte unseren Fahrer aber ganz und gar nicht: Stoisch hielt er Kurs. Vor meinen Augen hatte ich bereits das Zeitliche gesegnet, als der Kleinwagenfahrer kurzerhand auf die
nebenliegende Wiese auswich und anschließend davondüste. Einfach so. Kein Hupen, keine Drohgebärden, nichts. Als wir nach rund acht Stunden in Udaipur eintrudelten, verlangte ich unverzüglich nach einem Drink.
Und da saßen wir also auf der Terrasse eines Cafés und blickten auf den spiegelglatten Pichola-See und das malerische Taj Lake Palace. Das Hotel, in dem einst Roger Moore alias 007 in dem Film Octopussy Gangster jagte. Unser Fahrer geriet bei dem Anblick regelrecht ins Schwärmen: »007 ist mein großes Action-Vorbild.« Ach. Darauf einen Martini-Cocktail. Selbstverständlich geschüttelt, nicht gerührt. (Frank Störbrauck)
Magisches Rishikesh: Geburtsstadt des Yoga
Chromfarben und klar schwappt er vorüber in der einsetzenden Abenddämmerung, der Heilige Strom. Hier, am Fuße des Himalayas, ist der Ganges noch jung und unverdreckt, und an den Treppen an seinen Ufern finden sich allabendlich allerlei Sinnsucher ein. Mit dem Blick auf die schneebedeckten Achttausender im Hintergrund und eine alles überthronende Shiva-Statue, hinter der langsam die Sonne verschwindet, verfolgen sie ein gleichsam magisches Ritual, das sich Ganga Aarti nennt.
Bei dieser hinduistischen Feuerzeremonie, die der Guru mit seinen Schülern Mantra-singend und meditierend verbringt, werden kleine Lichter zusammen mit Blütenblättern behutsam auf Schiffchen drapiert und aufs Wasser gesetzt, sodass sie die Strömung hinuntersegeln. Die safranfarbenen Kleider der Schüler, der monotonmelodische Singsang, der Rauch der Flammen, der sich mit tausend anderen Gerüchen vermischt: Es ist nicht zuletzt diese hoch spirituelle Tradition, die Rishikesh zu einem so einzigartigen Ort macht.
Man braucht nicht lange, um zu verstehen, warum die Beatles einst in der mythenumrankten Geburtsstadt des Yoga meditierten und es ihnen seitdem Millionen Touristen aus aller Welt nachgemacht haben – ohne dass die Stadt und ihre Rituale dadurch etwas von ihrer Authentizität verloren hätten.
Denn Rishikesh ist so etwas wie das Auge des allgewaltigen indischen Sturms: ein kleiner, aber feiner Nukleus der Ruhe und Gelassenheit in einem ansonsten unbändigen Mahlstrom aus Farben und Dreck, Affengekreisch und Sitarklängen, bedrückender Enge und endloser Weite, Düften und Gestank, erdrückender Armut und erhebender Lebensfreude. Das spürt bereits, wer über die Hängebrücke Ram Jhula hinüber zum Parmarth Niketan Ashram schreitet, sich durch das Gewühl der Händler, Bettler und Hippies zwängt und sich am Eingang seiner Schuhe entledigt. Hier, in Rishikesh, schlägt vielleicht nicht das Herz Indiens, aber seine Seele, die wohnt hier bestimmt. (Jan Schnettler)
Acht Tage mit Amar: Unterwegs mit der »Deccan Odyssey«
Ich habe in Indien viel gesehen. Das meiste aber, was ich über Indien weiß, hat mir Amar erzählt. Wir sind Freunde geworden zwischen Mumbai und Goa. Amar ist Butler in dem Luxuszug »Deccan Odyssey«. Der Palast auf Gleisen fährt in Mumbai los, in einem der prachtvollsten Bahnhöfe Indiens. Viktorianische Neogotik.
Er kommt acht Tage später dort auch wieder an, zwischendurch bereist er die Küste des Arabischen Meers bis nach Goa. Es sind in der Regel reiche Europäer und Amerikaner, die in diesen Zug steigen. Oder Journalisten wie ich, die man einlädt, damit sie hinterher vom Luxus und der Pracht einer solchen Fahrt schwärmen, und von Indien natürlich, das sie aus dem Zugfenster im Vorbeihuschen als magisches Kaleidoskop wahrnehmen. Amar ist 36 Jahre alt, er trägt einen Turban aus Goldplissee, in dem er aussieht wie ein Barbier in einem Bollywood-Film. Gäste mögen dieses märchenhafte Outfit. Amar muss lachen auf die Frage, ob er sich so seinen Freunden zeigen würde. Wohl eher nicht, soll das heißen. Aber das ist nicht Amars größte Sorge. Eher, dass er seine Freunde nicht häufig sieht, mit oder ohne Turban, und seine Frau und seine Kinder auch nicht.
Amar mag seinen Job, auch wenn er seine Familie vermißt
Vier Kinder hat Amar, zwischen drei und vierzehn Jahren. Seine Familie lebt in der Nähe von Kolhapur, einer Stadt in der Provinz Maharashtra, in der Nähe des Rankalasees. Leider gibt es für Amar dort nur schlecht bezahlte Handlangerjobs. Er ist froh über seinen Job als Butler im Zug. Wie er den bekommen hat? Ach. Amar wackelt mit dem Kopf eine Acht in die Luft. Soll heißen: Vermutlich kennt er einen, der einen kennt … Es hat jedenfalls eine Menge Rupien gekostet. In Indien kosten solche Sachen immer eine Menge Rupien. Amar spricht nahezu akzentfreies Englisch, er verdient nicht schlecht im Verhältnis zu den meisten seiner Landsleute. Mit den mehr als 5.000 Dollar, die seine Gäste für die acht Tage im »Deccan Odyssee« zahlen, könnte seine Familie allerdings ein paar Monate pompös leben. Amar mag seinen Job. Die meisten seiner Gäste stecken ihm am Ende der Reise ein Trinkgeld zu, manchmal 20 Dollar, selten 50.
Seine Frau kommt hin und wieder mit den Kindern an den Bahnhof von Kolhapur, am sechsten Tag der Rundreise. Viel Zeit bleibt ihnen nicht. Der Zug macht hier ein paar Stunden Pause, die Europäer und Amerikaner schauen sich die Stadt an. Meistens muss Amar sie begleiten, manchmal nicht. Ich bitte seinen Vorgesetzten darum, mit Amar in die Stadt gehen zu dürfen. Natürlich wird mir das gewährt, ich bin ja der Journalist. Ich sage Amar, dass er seine Frau verständigen soll, wir treffen uns alle in einem Café in der Nähe des Bahnhofs. Ich will mich zurückziehen, doch Amar besteht darauf, mit seiner Frau und seinen Kindern einen Tee zu trinken, bevor ich gehe. Es ist die schönste, die wärmste halbe Stunde in acht Tagen. (Harald Braun)