Der Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Nepals. Eigentlich wollte das kleine Land in diesem Jahr einen Besucherrekord brechen. Stattdessen wirft die Corona-Pandemie es abermals zurück. Vor allem die Menschen in den Bergregionen leiden unter den fehlenden Einnahmen.
Stünde die Welt nicht gerade Kopf, wäre Ngima Tenji Sherpa in den Bergen. Vielleicht würde er in diesem Moment durch die kargen Hochtäler in Mustang streifen, vielleicht in Langtang Yaks in freier Wildbahn beobachten oder vom Poon Hill den Anblick der Achttausender genießen. Vielleicht wäre der freiberufliche Trekking-Guide auch in seiner Heimat unterwegs: Ngima gehört zum Volk der Sherpa, er kommt aus dem Distrikt Solukhumbu am Fuße des Mount Everests. Sechs bis sieben Tage Marsch sind es von seinem Dorf Tumbuk bis zum Everest Base Camp auf 5364 Metern. »Ich habe den Trek schon oft mit Kunden gemacht«, erzählt Ngima.
Tourismus in Nepal: 2020 sollte ein Meilenstein werden
Doch statt draußen in der Natur, statt am Everest oder anderswo im Himalaya hat er die letzten Wochen in einem kleinen Zimmer in Kathmandu verbracht. In der Hauptstadt holt er seine Gäste zu den Wanderungen ab. Normalerweise. Jetzt kann er wegen des landesweiten Lockdowns nicht hier weg, obwohl er lieber bei seiner Familie in Solukhumbu wäre. Im Stadtteil Kapan lebt er zusammen mit seinem Bruder Pasang, der auch im Bergtourismus tätig ist. Pasang ist Koch. Und wie Ngima seit Kurzem arbeitslos.
»Die Situation ist belastend«, erzählt Ngima im Videocall und sein freundliches Gesicht wird ernst.
»Normalerweise verdienen wir im Frühling das meiste Geld. Davon leben wir monatelang und können außerdem unsere Familie unterstützen.«
Zwar gibt es in den Herbstmonaten, von Oktober bis Dezember, noch eine zweite Saison. »Aber ich bezweifle, dass bis dahin alles wieder normal ist.«
Dabei hätte es ein außerordentliches Jahr werden sollen, ein Meilenstein sogar. Nepal hatte sich zum Ziel gesetzt, erstmals in seiner Geschichte mehr als zwei Millionen Gäste zu begrüßen. Dafür hatte man im Ausland kräftig die Werbetrommel gerührt: »Visit Nepal 2020« hieß die Kampagne, die den Tourismus nach dem Erdbeben 2015 wiederbeleben sollte. Die herben Einbußen, die das Land nach dem Beben hatte einstecken müssen. Man wollte sie ein für allemal hinter sich lassen, einen Satz nach vorn machen, über sich hinauswachsen.
Mehr als eine Million Jobs hängen von Touristen ab
Dann kam Corona. Und schließlich der Tag, an dem sich abzeichnete: 2020 wird eine Katastrophe für Nepal. Ngima kann sich gut an ihn erinnern. Es ist Freitag, der 13. März, als die Regierung die Klettersaison bis auf Weiteres absagt. Bereits erteilte Genehmigungen für die Besteigung des Mount Everests und anderer Berge im Himalaya verlieren ihre Gültigkeit, Visa-on-Arrival werden nicht mehr ausgestellt.
Das ist das Aus nicht nur für Expeditionen auf die höchsten Gipfel der Welt, sondern auch für Trekkingtouren, wie Ngima sie anbietet. »Ich saß an diesem Tag mit Freunden zusammen, die auch in der Trekkingindustrie arbeiten«, erzählt der 27-Jährige. »Da hatten wir noch Hoffnung, dass die Lage sich rechtzeitig entspannt.« Der Lockdown elf Tage danach nimmt ihnen jegliche Zuversicht.
Mehr als 20.000 Trekking-Guides, Berg- und Reiseführer verlieren auf einen Schlag ihr Einkommen – genau wie Träger, Köche, Betreiber und Angestellte in Hotels, Lodges und Restaurants im ganzen Land. Insgesamt schafft Nepals Tourismussektor laut dem »World Travel and Tourism Council« direkt und indirekt mehr als 1,05 Millionen Jobs. Und von denen, die so einen Job haben, sind oft wiederum mehrere erwerbslose Angehörige abhängig. Wie wichtig der Wirtschaftszweig für Nepal ist, verdeutlichen die folgenden Zahlen: 744 Millionen US-Dollar nahm der Himalayastaat im Jahr 2018 allein mit dem internationalen Fremdenverkehr ein. Rechnet man den inländischen Tourismus hinzu, erwirtschaftete die Branche sogar einen Umsatz von 2,2 Milliarden US-Dollar – das entspricht 7,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Mount Everest: Leer wie seit dem Erdbeben nicht mehr
Vor allem für die Menschen in den Bergregionen ist die Situation existenzbedrohend. In vielen Gemeinden am Fuße des Himalayas hängt das ganze Leben von dem Geld ab, das Touristen in der Hauptsaison hier ausgeben. Die »Trekking Agencies Association of Nepal« schätzt, dass etwa eine Million Bergbewohner unter den fehlenden Einnahmen zu leiden haben. Besonders hart trifft es die Sherpa in der Everest-Region, aus der auch Ngima stammt. Normalerweise besuchen pro Jahr etwa 35.000 Trekker und Bergsteiger die Gegend, übernachten in den Lodges, essen Dal Bhat in den Restaurants am Wegesrand, kaufen in den kleinen Geschäften ein. Und: Sie beschäftigen Guides, Küchenhilfen und Träger, die Gepäck und Equipment, von Kochgeschirr bis Sauerstoffflaschen, den Berg hinaufschleppen.
Es ist noch nicht einmal ein Jahr her, dass ein Foto vom überfüllten Gipfel des Mount Everests um die Welt ging. Jetzt ist der höchste Berg der Welt so leer wie zuletzt nach dem Erdbeben. 350 bestätigte Buchungen für Everest-Besteigungen hatte es auch 2020 schon gegeben. Jede Stornierung ist ein herber finanzieller Verlust. Für ausländische Bergsteiger kostet allein die Erlaubnis zur Expedition 11.000 US-Dollar. Mehr als vier Millionen Dollar hat die Regierung mit dem Verkauf der Genehmigungen im vergangenen Jahr verdient. Insgesamt investieren die Gipfelstürmer zwischen 40.000 und 90.000 Dollar in ihr Everest-Abenteuer – Geld, das der Region und ihren Bewohnern jetzt zum Leben fehlt.
Tourismus in Nepal nach Corona? Mehr Bewusstsein, bitte
»Gerade die Träger haben es schwer«, sagt Pema Sherpa von der »Sherpa Welfare Nepal Foundation«. Die meisten sind Tagelöhner, die von der Hand in den Mund leben.
»Viele können sich nicht einmal mehr Essen leisten und müssen auf die Hilfe von Verwandten und Freunden hoffen.«
Ihre Situation beschäftigt auch Ian Wall seit vielen Jahren. Er ist Vorstand der nepalesischen Nichtregierungsorganisation »Kathmandu Environmental Education Project« (KEEP), die sich für das Wohl von Menschen einsetzt, die im Tourismus arbeiten. »Ein Träger sollte, je nach Trek und Gebiet, 20 Dollar am Tag plus Trinkgeld für seine harte Arbeit verdienen«, sagt der Experte. »Aus reiner Not erledigen viele den Job aber auch für viel weniger.« Oft sind sie dabei nicht angemessen ausgerüstet. »KEEP« versucht mit dem »Porters‘ Clothing Bank Center« Abhilfe zu schaffen: Die Organisation nimmt Kleiderspenden entgegen und kann bis zu 500 Träger pro Saison mit wetterfesten, warmen Sachen versorgen.
Träger sind das Rückgrat des Tourismus in Nepal
»Dinge wie die Kleidung der Träger haben viele Touristen gar nicht auf dem Schirm«, so Ian Wall, der mit seinem Team auch interessierte Trekker und Bergsteiger berät. Von Reisenden, die Nepal nach Corona besuchen wollen, wünscht er sich mehr Bewusstsein. »Trekking-Touristen müssen von Schnäppchenangeboten die Finger lassen, bei denen sie nur 20 Dollar pro Tag für alles zahlen«, warnt er.
»Wenn sie ihre Tour über eine Agentur buchen, sollten sie darauf achten, dass diese nur mit zertifizierten Guides arbeitet und ihre Träger gut ausstattet.« Außerdem seien Trinkgelder wichtig. »Als Obolus halten wir 30 Prozent des Tagessatzes pro Tag und Arbeiter für angemessen.« Reisende müssten vor allem eines verstehen:
»Die Träger sind das Rückgrat von Nepals Trekking- und Bergsteigerindustrie. Ohne sie wären Expeditionen und viele Treks überhaupt nicht möglich.«
Auch Ngima Tenji Sherpa hatte als Träger begonnen, bevor er Trekking-Guide wurde und etwas Geld zur Seite legen konnte. »Im Moment kann ich noch von Ersparnissen zehren. Länger als ein paar Monate reichen sie aber nicht.« Um sich von den finanziellen Sorgen abzulenken, haben sein Bruder und er kürzlich ihr Zimmer in Kathmandu gestrichen – in einem frischen Türkis. »Sobald es geht, wollen wir zu unserer Familie nach Solukhumbu fahren und beim Gemüseanbau helfen.«
Leiser Hoffnungsschimmer
Aus Solukhumbu, ihrer Heimat, gibt es unterdessen auch gute Nachrichten: In der kleinen Gemeinde Hill Sherpa Toll können Kinder bald endlich wieder in die Schule gehen. Das Erdbeben hatte ihr Schulgebäude zerstört, die »Sherpa Welfare Nepal Foundation« hat es Stück für Stück mit Spendengeldern wieder hergerichtet. »Das Coronavirus kam uns zum Glück nicht in die Quere«, freut sich Pema Sherpa, der Leiter der Organisation.
So geht es hier, wenn auch ganz langsam, doch voran. Und hoffentlich bald wieder bergauf.